VDA-Präsidentin Hildegard Müller: „Standort- und Wettbewerbspolitik unterstützt Klimapolitik“
– Industrie als Chance nutzen
– Globale Relevanz durch strategische Industriepolitik absichern
– Re-Globalisierung statt De-Globalisierung
– Pkw-Weltmarktniveau bleibt weiter deutlich unter Vor-Coronakrisen-Niveau
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) fordert ein klares politisches Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland: „Ohne ein ambitioniertes Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Standort drohen wir, global dauerhaft den Anschluss zu verlieren – mit negativen Folgen für Wohlstand, Beschäftigung und Klimaschutz. Nur eine erfolgreiche Transformation – für Klima, Menschen und Wirtschaft – wird weltweit kopiert“, betont VDA-Präsidentin Hildegard Müller bei der VDA-Jahresauftaktpressekonferenz.
Nach der Corona-Krise haben die Folgen des Kriegs in der Ukraine, insbesondere die Energiekrise, die in Teilen schon vorher vorhandenen Standortschwächen Deutschlands schonungslos offengelegt. „Die geopolitischen Entwicklungen haben uns eindrucksvoll vorgeführt, dass unser bisheriges Wirtschaftsmodell kein automatischer Wohlstandsgarant mehr ist. Während international ein intensiver Standortwettbewerb begonnen hat, ist Deutschland nun – neben dem andauerndem Krisenmanagement – damit konfrontiert, dass Wirtschafts- und Geopolitik fortan noch stärker strategisch zusammengedacht und entwickelt werden müssen. Europa muss durch zielgerichtete Standort- und Wirtschaftspolitik dafür sorgen, dass es in der Folge nicht zu einer globalen Achsenverschiebung kommt“, warnt Müller.
Konkret machte Müller deutlich: „Wenn Deutschland, wenn Europa mehr Verantwortung übernehmen, Werte oder Überzeugungen für mehr Klimaschutz international langfristig verankern will, dann funktioniert das nur als erfolgreiche, weltweit führende Wirtschaftsnation. In anderen Worten: Nur wenn wir international relevant bleiben, werden wir auch künftig global politisches Gewicht haben – und können somit Vorbild für Klimaschutz und Werte sein. Die deutsche Automobilindustrie ist entschlossen, ihren Beitrag zu leisten und dieses Zukunftsbild zu ermöglichen. Dabei sind wir uns unserer gesellschaftlichen und ökologischen Verantwortung bewusst und stehen entschlossen zu den CO2-Zielen.“
Akuter Handlungsbedarf bei Energie, Infrastruktur und Geschwindigkeit
Energiepolitik: „Die Industrie ist und bleibt Deutschlands Wohlstandsmotor – und dieser Motor braucht eine sichere langfristige und ausreichende CO2-neutrale Energieversorgung, für die alle Optionen genutzt werden sollten. Wenn der aktuelle Energiepreisschock nicht zu einem langfristigen Standortnachteil werden soll, ist diese Einsicht zwingend notwendig. Energie darf für Industrie und Verbraucherinnen und Verbraucher nicht zum Luxusgut werden. Reduzierungen der Steuern und Abgaben können den Strompreis darüber hinaus unbürokratisch und einfach zusätzlich entlasten“, betont Müller.
Infrastruktur: „Um ein attraktiver Investitions-, Innovations- und Produktionsstandort zu bleiben, ist eine ausgezeichnete analoge und digitale Infrastruktur Grundvoraussetzung. Wenn politische Ziele angesichts wachsender Herausforderungen immer ambitionierter werden, muss zudem auch die staatliche Leistungsfähigkeit in gleichem Maße mitwachsen und sich an der Geschwindigkeit der Wirtschaft messen lassen. Um ein Transformations-Standort zu sein, müssen wir attraktivste Infrastruktur-Bedingungen bieten. Ohne ein umfassendes Infrastruktur-Programm wird dieser Faktor ansonsten zunehmend zu einer folgenreichen Belastung für die Wirtschaft“, so Müller.
Rohstoffabsicherung: „Rohstoffengpässe zu verhindern, ist nicht nur eine geologische Herausforderung – es ist vor allem eine wirtschaftspolitische. Diese zentrale Erkenntnis muss für mehr politisches Tempo sorgen: Europa braucht jetzt eine Agentur für strategische Rohstoffe. Brüssel muss mit möglichst vielen weltweiten Rohstoffpartnerschaften Rechtssicherheit für Investitionen garantieren. Zudem müssen auch die in Europa selbst vorhandenen Rohstoffvorkommen erschlossen und genutzt werden“, fordert Müller.
Geschwindigkeit: „Wer in diesen Zeiten nicht schnell agieren kann, der hat schon verloren. Und wenn jeder Ansatz von Wandel, jeder neue Prozess in bürokratischen Aufwänden erstickt, dann ist das mehr als kontraproduktiv, hemmt den Fortschritt und belastet besonders den Mittelstand. Schnelligkeit und Flexibilität müssen durch maximal beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren ermöglicht werden. Hier muss Deutschland digitaler, einfacher und schneller werden. Angekündigte Belastungsmoratorien müssen umgesetzt, Bürokratie-Abbau Ampel-Maxime werden“, so Müller.
Notwendigkeit einer marktwirtschaftlich-orientierten Industriepolitik
Die Lage ist ernst: „Berlin und Brüssel müssen jetzt schnellstmöglich die Wettbewerbsfähigkeit Europas sicherstellen. Industriepolitik ist Klimapolitik. Nur mit den richtigen Rahmenbedingungen können die europäische und die deutsche Industrie weltweit führend bei Transformationstechnologien sein, nachhaltige sowie digitale Innovationen weiter vorantreiben und weltweit exportieren. Der hohe Anteil der Industrie in Deutschland ist dabei eine große Chance – wenn wir sie nutzen, wenn Politik ermöglicht, sie zu nutzen. Industriepolitik muss dabei entfesseln und nicht für Unternehmen entscheiden. Sie muss auf marktwirtschaftliche Instrumente setzen und technologieoffen bleiben. Die Auffassung, Zukunft vorausschauen zu können und ihr nicht offen, sondern festgelegt – in einem engen Korsett aus Regeln und Verordnungen – zu begegnen, ist falsch, innovationshemmend und somit für unseren Wohlstand gefährlich. Fortschritt basiert auf Ideenreichtum und Risikobereitschaft. Diese Mentalität muss gefördert und gelebt werden. Eine durchdachte Industriepolitik basiert auf drei Säulen: Erstens: ‚Was ist unser Ziel?‘ Zweitens: ‚Was brauchen wir dafür?‘ Drittens: ‚Wie kann ermöglicht werden, das Ziel zu erreichen?‘“, so Müller.
Internationale Relevanz sichern
„Die europäische Antwort auf die vielen De-Globalisierungsszenarien muss eine klare Re-Globalisierungs-Agenda sein. Diese Agenda basiert auf einer viel breiteren Basis – mit Rohstoff- und Handelsabkommen sowie mit Energiepartnerschaften – so diversifiziert wie möglich, um Abhängigkeiten abzubauen und resilienter aufgestellt zu sein. Leitmotiv dabei: So autonom wie notwendig und so offen, global und marktorientiert wie möglich. Nur so kann sich Europa, kann sich Deutschland im globalen Wettbewerb behaupten, relevant bleiben und Politik global in unserem Sinne, mit unseren Werten und unserem Anspruch für eine ambitionierte Klimapolitik aktiv gestalten“, erklärt Müller.
Bekenntnis zur Industrie von Politik und Gesellschaft
Der hohe Industrieanteil in Deutschland sollte dabei als Chance genutzt werden: „Zukunftstechnologien in die ganze Welt zu exportieren, ist der größtmögliche Beitrag, den Deutschland zum globalen Klimaschutz leisten kann. Deswegen braucht es das Bekenntnis zur Industrie – von Politik und Gesellschaft. Damit wir mit wirtschaftlich generierter Stärke ambitionierte globale Klima- und Geopolitik in unserem Sinne aufbauen können. Es braucht auch ein positives Narrativ: Es ist unser aller Aufgabe, Zuversicht zu verbreiten und Möglichkeiten und Wege zu finden, Probleme zu lösen. Zuversicht und Glaube an den Zivilisationsfortschritt, an technologische Revolutionen in der Energiewende, Gründergeist in der Wirtschaft und Leistungsbereitschaft in der Bildungspolitik sind dabei entscheidend. Besinnen wir uns auf die Kraft der sozialen Marktwirtschaft. Schaffen wir jetzt gemeinsam Standing durch Standort, Wirkung durch Wohlstand und internationale Regeln durch Relevanz“, so Müller.
Prognosen 2023
Im Rahmen der Pressekonferenz verkündet VDA Chefvolkswirt Dr. Manuel Kallweit zudem die Prognosen für die wichtigsten Pkw-Märkte: „Für den deutschen Markt erwarten wir ein Wachstum um 2 Prozent auf gut 2,7 Mio. Einheiten. Dies bedeutet aber immer noch ein Viertel weniger als im Vorkrisenjahr 2019. Für Europa (EU27, EFTA & UK) gehen wir von einem Absatzplus von 5 Prozent auf 11,8 Mio. Pkw aus. Der US-Light-Vehicle-Markt dürfte im Jahr 2023 um 4 Prozent auf 14,2 Mio. Light Vehicle ansteigen. China, wo sich der Markt auch 2022 schon auf hohem Niveau bewegt hat, dürfte 2023 nur leicht um 3 Prozent auf 23,7 Mio. Pkw wachsen. Der chinesische Markt befand sich bereits 2022 wieder oberhalb des Vor-Corona-Niveaus. Das bedeutet im Ergebnis, dass der Weltmarkt zwar moderat um 4 Prozent auf 74,0 Mio. Einheiten wachsen dürfte, aber damit auch im Jahr 2023 noch 6,5 Mio. Fahrzeuge (8 Prozent) hinter dem Marktvolumen des Vor-Corona-Jahres 2019 zurückbleibt.
Die schrittweise Entspannung der Versorgungslage dürfte im Jahr 2023 zu einer weiteren Erholung der Pkw-Inlandsproduktion führen. Der VDA erwartet einen Zuwachs von 6 Prozent auf 3,7 Mio. Einheiten. Das wären 20 Prozent weniger als im Vorkrisenjahr 2019. Die Pkw-Auslandsproduktion deutscher Konzernmarken dürfte mit der Fertigung von 10,3 Mio. Pkw ebenfalls um 6 Prozent zulegen.
Bei den Nutzfahrzeugen ist die Nachfrage weiterhin intakt. Wir erwarten, dass in Europa 4 Prozent mehr schwere Nutzfahrzeuge zugelassen werden. In den Vereinigten Staaten dürften es 5 Prozent sein. In China gehen wir nach deutlicher Korrektur in den beiden Vorjahren von einem Wachstum von 10 Prozent aus. Auf dem deutschen Markt für schwere Nutzfahrzeuge erwarten wir ein Wachstum von 4 Prozent und somit einen Anstieg im europäischen Durchschnitt."
Verband der Automobilindustrie e.V. (VDA)
Behrenstr. 35
10117 Berlin
Telefon: +49 (30) 897842-0
Telefax: +49 (30) 897842-600
http://www.vda.de
Leiter Pressestelle, Sprecher Politik und Gesellschaft
Telefon: +49 (160) 95900967
E-Mail: simon.schuetz@vda.de