Erziehung eines Außenseiters, italienische Landschaften, die „Sache Kreuzner“ sowie ein Auburtinist -5 E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Bereits zu DDR-Zeiten ist Waldtraut Lewin nach Italien gereist und brachte von dort „Addio, Bradamante. Drei Geschichten aus Italien“ mit. Reisebericht und mitreißendes Erlebnis zugleich.
Eine freundliche Einladung zu Jürgen Borchert und seinen Texten – das ist „Spiel gegen sich selbst. Feuilletons & Geschichten“.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder herrscht Krieg. Das bringt auch die Erinnerung an einen anderen schrecklichen Krieg und an seinen Beginn wieder hoch, als ein US-Präsident 1964 beschließt, in Nordvietnam eine Bedrohung für die Welt zu sehen und als der amerikanische Luftwaffengeneral Curtis E. LeMay verspricht, „Vietnam in die Steinzeit zurückzubomben“. So wirft die amerikanische Luftwaffe allein in den ersten drei Kriegsjahren 2,5 Millionen Tonnen Bomben auf das Land – mehr als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Am Ende aber steht am 30. April 1975 die Besetzung Saigons durch Truppen der Vietcong und der nordvietnamesischen Armee und die Kapitulation Südvietnams. Saigon wird in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannt. Damit endet nach elf Jahren der Vietnamkrieg.
Bis dahin aber sind beim Erscheinen des heute vorgestellten Buches noch sechs lange und schwere Jahre – Kriegsjahre, in denen aber auch die weltweiten Proteste gegen diesen schmutzigen Krieg der USA nicht abreißen: „Ami go home!“, lautet die Losung:
Erstmals 1969 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Feuervögel über Gui“ von Wolfgang Held: Khai und Hua leben mit ihren Eltern in dem kleinen Dorf Gui im Süden Vietnams, mitten im Dschungel. Seit kurzer Zeit haben sie eine Schule und eine Lehrerin, die abends auch ihren Eltern das Lesen, Schreiben und Rechnen beibringt. Die Lehrerin Nam weiß sogar noch mehr Geschichten als Onkel Quam.
Doch da kommen amerikanische Flugzeuge und werfen Napalmbomben auf ihr Dorf. Hua und Khai können sich in einem Geheimgang verbergen und sind die einzigen Überlebenden des Dorfes. Beiden Kindern gelingt die Flucht in den Dschungel.
Als sie einen hilflosen, schwerverletzten USA-Soldaten finden, bringen sie es nicht übers Herz, ihn allein zu lassen oder gar zu töten. Zum „Dank“ werden sie gefangen genommen und gefoltert. Können sich die Kinder befreien?
Spannend, kindgerecht und ergreifend schildert Wolfgang Held in dem Buch von 1969 den Vietnamkrieg aus der Sicht des vietnamesischen Volkes. Ein interessantes Buch, das angesichts der aktuellen Weltpolitik nicht nur die Kinder zum Nachdenken anregt. Und so beginnt es:
„DER ELEFANT HAM UND DAS UNBESIEGBARE GRAS
Das Mädchen und der Junge hatten die Reisfelder hinter sich gelassen. Sie waren nach Süden aufgebrochen, als der Tau noch silbern auf den Gräsern schimmerte und die Berge ihre Schatten bis hinab zu den Tümpeln schickten, in denen ein Heer von Fröschen quarrend und gurgelnd den neuen Tag begrüßte. Jetzt stand die Sonne schon gut zwei Fingerspannen hoch über den Bergbuckeln. „Schlafende Büffel“, so hießen sie bei den Leuten des Dorfes Gui. Von dort kamen das Mädchen und der Junge.
Gui war ein sehr kleines Dorf. Nur knapp dreihundert Menschen wohnten in den auf Pfähle gebauten und mit Palmstroh gedeckten Hütten. Im Westen, Norden und Osten bildete der Dschungel eine grüne, undurchdringliche Mauer um die Ansiedlung und die Felder. Eine Straße hinaus ins Land gab es nicht. Die einzige Verbindung zu der viele Kilometer entfernten Distrikthauptstadt war ein beschwerlicher Pfad über die Schlafenden Büffel im Süden.
Das Mädchen Hua lief einige Schritte vor ihrem Bruder Khai. Sie hatte wie er die schwarze Kattunhose über den dünnen braunen Beinen bis zu den Knien hochgekrempelt und war barfüßig. Geschickt vermied sie die scharfkantigen Steine, die, geschliffenen Beilen gleich, aus dem rissigen Boden wuchsen. Ihr tiefschwarzes, bis auf die Schultern fallendes Haar glänzte matt in der Sonne. Wenn Hua einem dornigen Zweig auswich oder eine der vom Regenwasser in den Pfad gefressenen Rinnen übersprang, blieben ihre Bewegungen voll tänzerischer Anmut und Geschmeidigkeit. Das pralle Bündel, das sie trug, schien federleicht zu sein. Doch der Schein trog. Es wog mindestens fünf Kilo und war damit fast so schwer wie der geflochtene, randvolle Korb, den Khai auf dem Rücken schleppte.
Khais kastanienbraune Augen beobachteten hellwach die Umgebung. Ihm entging nichts. Er sah den braun-roten Falter, groß wie eine Männerhand, im taumelnden Flug über das dicht verfilzte Buschwerk segeln und entdeckte auch den rotschwänzigen Gecko, der blitzschnell zwischen Laub und Blüten verschwand. Doch nicht diese harmlosen Bewohner des wild wuchernden Dickichts waren es, die den Jungen vorsichtig und abwehrbereit machten. Er wusste, dass hier am Nordhang der Schlafenden Büffel noch nie ein Tiger gesehen worden war. Die Feinde, nach denen er Ausschau hielt, hatten Menschengesichter!
Die fünfzehnjährige Hua und ihr um ein Jahr jüngerer Bruder Khai erinnerten sich noch genau an die Zeit des großen Hungers. Zweimal im Jahr schnitten die Bauern aus Gui den reifen Reis: die „Ernte des fünften Monats“ und die meist reichere „Ernte des zehnten Monats“. Da sie, uralter Sitte folgend, nach Mondjahren rechneten und das Mondneujahr fast immer im Februar gefeiert wurde, war der fünfte Monat bei ihnen der Juni und der zehnte Monat der November. Ob nun aber die gebündelten, weißlich gelben Rispen der Reisernte an den Enden der biegsamen Traghölzer schwer oder leicht wogen, niemals blieben die Vorratslager der Bauern in Gui bis zur nächsten Ernte gefüllt. Reis allein genügt nicht zum Leben. Die Bauern brauchten Salz und Stoff für die Kleidung und Werkzeuge. All das besaßen nur die reichen Händler in der Distrikthauptstadt. Sie bestimmten, wie viel Reis die Dorfbewohner für eine neue Sichel oder ein Kilo des begehrten Salzes geben mussten. Wenn die Bauern nicht genug auf die Waagen der Händler legen konnten, wurde der fehlende Rest als Schuld angeschrieben. Lange Zahlenreihen wuchsen so in die Bücher der Händler, und etwas Seltsames geschah. Diese Zahlen wucherten auf den Buchseiten wie Unkraut im warmen Schlamm. Ganz Ähnliches passierte mit den Zahlen auf den Listen der Steuereintreiber. Bald waren die Schulden höher als die Ernte. Eines Tages kamen dann die Händler selbst über die Schlafenden Büffel nach Gui. Sie ließen sich in Sänften tragen und waren nicht allein. Soldaten der Regierung begleiteten sie und kräftige Männer, die Lasten schleppen konnten. Sie holten nicht nur den Reis aus den Hütten, sie nahmen den Familien auch die Büffel und die Schweine und das Federvieh. Zudem forderten sie, dass die Bauern ihre halbwüchsigen Töchter und Söhne zum Sklavendienst hergaben.
Hua und Khai hatten mit angesehen, wie es einem Mann ergangen war, der für die schwere Arbeit in den Reisfeldern nur einen Wasserbüffel besaß und ihn behalten wollte. Die Soldaten hatten diesen Mann und seine Frau an die Pfähle der Hütte gebunden und Feuer gelegt. Sie waren vor den Augen ihrer fünf Kinder und der übrigen Dorfbewohner lebendigen Leibes verbrannt. Die drohenden Mündungen von Maschinenpistolen hatten keine Hilfe zugelassen. Bis ans Ende ihres Lebens würden Hua und Khai den letzten Aufschrei des in den Flammen sterbenden Reisbauern im Gedächtnis behalten: Verflucht sollt ihr Teufel sein, bis die Berge zu Staub zerfallen und der Himmel einstürzt … Verflucht und gejagt!
Seit drei Jahren war nun alles anders geworden in Gui. Begonnen hatte es an einem sehr heißen Maitag. Zwei fremde Männer und eine mädchenhaft junge Frau waren aus dem Dschungel ins Dorf gekommen. Sie trugen schwarze Hemdblusen und flatternde schwarze Hosen. Jeder von ihnen besaß ein Gewehr. Ihre Stimmen klangen freundlich, aber sie sprachen nicht die Mundart der Leute aus dem Dorf. Anfangs machte das die Bewohner misstrauisch. Konnte es nicht sein, dass diese Schwarzgekleideten von der Distriktverwaltung geschickt worden waren, von den Handlangern, die früher den französischen Kolonialisten gedient hatten und nun von den reichen Händlern und Großgrundbesitzern bezahlt wurden? Waren es Spitzel, die in Gui nach Reisverstecken suchten oder nach jungen, gesunden Männern für die Regierungstruppen? Niemand redete mit ihnen, niemand hörte ihnen zu. Trotzdem beobachteten viele dunkle Augenpaare unauffällig jeden ihrer Schritte.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 1970 veröffentlichte Herbert Otto im Aufbau-Verlag seinen Roman „Zum Beispiel Josef“: Wer ist ein „Springer“? Zum Beispiel Josef, Josef Neumann, Jahrgang 1940, ehemaliger Fremdenlegionär. Er leert die Jackentaschen, zählt die Schritte ab für den Anlauf und fliegt durch die Scheibe, die mit einem vollen und gediegenen Ton zerspringt. Ein schwieriger Fall, der Mann mit dem Tick, dem solche Sprünge in Algerien das Leben retteten, der sie im Bordell in Beirut und in den Gassen der Altstadt von Dakar als Attraktion zum Besten gab und nun in dieser DDR nur Ärger damit hat und macht, Bruno, dem Brigadier, den Betonbauern und nicht zuletzt Julia, der jungen Frau, die ihn braucht. Es fehlt nicht an Auseinandersetzungen und Komplikationen, ehe Josef, der getriebene und sich treibenlassende Außenseiter, durch die behutsame, aber konsequente Hilfe der Menschen an seiner Seite erkennt, dass er, der bisher immer einer Hölle entkommen war, um in eine andere zu geraten, nun eine Heimat gefunden hat. Aus dem „Springer“ wird ein Hydrauliker beim höchsten Schornsteinbau der Welt, ein Mann, der mit dem Kollektiv Verantwortung übernimmt. Und Julia sagt zu ihm: „Weißt du, was du bist? Ein Heber. Hebst und hebst.“
Der Roman wurde 1974 von der DEFA in der Regie von Erwin Stranka mit Jürgen Heinrich als Josef Neumann verfilmt. Gedreht wurde unter anderem auf der Warnowwerft Warnemünde und auf der Neptunwerft Rostock. Hier der Anfang dieses spannenden Romans:
„1. Kapitel
Er wollte nicht zu Julia.
Gestern hatte er daran gedacht, in die Stadt zu fahren, um in eines der großen Tanzlokale zu gehen. Es lohnte sich nicht, wenn es schnell und einfach ging, und wenn es versprach sich zu lohnen, ging es nicht schnell genug. Er war nicht gefahren und nicht zu Julia gegangen, sondern hatte geschlafen.
Er konnte lange Zeit mit sehr wenig Schlaf auskommen, und dann konnte er wieder vierzehn Stunden durchschlafen, aufstehen für zwei, drei Bier, sich hinlegen und weiterschlafen. Manchmal ruhte er während der freien Tage überhaupt nicht aus. Und es wurden ganz wilde Tage.
Diesmal lagen sie mitten in der Woche, von Montag bis Freitag, was selten vorkam. Eine Gitarre hatte er immer noch nicht gekauft, obwohl er in einen Laden gegangen war, um Instrumente anzusehen. Es war wohl noch zu früh. Das allererste Instrument damals war eine Laute. Die Schwester hatte außerdem eine Theorbe gehabt, eine vierzehnsaitige. Die war schwer zu spielen und hatte einen harten, brüchigen Klang, und später hat er nie wieder eine Theorbe gesehen.
Er hatte keinen Plan gemacht für die freien Tage. Er hätte irgendwohin fahren können. An die Küste würde er irgendwann fahren, wieder Schiffe sehen und einen Hafen und langsam auf einer Mole hinausgehen, wenn der Wind von See kommt. Geruch von Weite, Salz und Fisch. Nicht dass er Sehnsucht gehabt hätte nach einem Schiff. Trotzdem wäre er gern an die Küste gefahren. Er wollte damit noch warten, bis es richtig Sommer war. Es war jetzt Mitte Mai.
Die ersten beiden Tage verschlief Josef. Er wachte Mittwoch vormittag auf. Die Sonne schien. Unten im Hof saß Frau Billmann und putzte Grünzeug. Sie saß auf der Bank am Schuppen in der Sonne. Manchmal ließ sie ihre Hände ein Weilchen ausruhen. Er würde heute den Schalter reparieren. Wenn Sie das machen wollen, und wenn es Sie nicht belästigt. Sie freute sich rührend über so etwas, die alte Frau. Er würde heute eine Feder besorgen oder gleich einen neuen Schalter. Dann Mittagessen. Vielleicht am Bahnhof. Er traf Stefan in der Stadt.
Was machst du?
Nichts. Und du?
Als sie vor drei Wochen ins Kino fuhren, mit dem Bus, den sie Gummidampfer nannten, hatten sie nebeneinandergesessen. Stefan gehörte nicht zur Brigade, war aber trotzdem mitgefahren. Seine Sache am Turm waren die Aufzugswinden. Das heißt alles Elektrische an den Winden. Sie nannten ihn den Südschweden. Er stammte aus einem Dorf in Mecklenburg. Auf der Baustelle sah man ihn nie ohne irgendwelches Zeug in den Händen: kleine Kartons, Draht, Kabel, Kneifzange. Die anderen Elektriker behaupteten von ihm: ein Tag, an dem er nicht irgendwo ein Relais einbauen kann, ist für ihn ein versauter Tag. Josef traf ihn gegenüber der Milchbar, und Stefan trug nichts bei sich und sah regelrecht nackt aus mit den leeren Händen.
Er trifft also zufällig den Südschweden, Garten-, Ecke Bebelstraße, und alles wird anders weiterlaufen. Ereignisse werden kommen, die sonst nicht oder viel später gekommen wären, und es wäre mit ihm anders weitergegangen, schmerzlicher oder belangloser oder komischer.
Was machst du so? Gar nichts. Und du? Noch kein Relais eingebaut heute? Wird nachgeholt. Heute scheint Sonne, und man sollte mit dem Boot aufs Wasser. Du hast ein Boot? Ich miete ein Boot. Mehr ein Kahn. Der große und der kleine Kolksee. Naherholungszentrum hinter Kolkwitz, wenn du das kennst. Kenn ich nicht. Naherholung. Kann nur das Gegenteil sein von Fernerholung. Erklär mir den Unterschied. Welchen Unterschied? Den zwischen Nah- und Fernerholung. Und wer sich fern erholt. So eine dumme Frage habe ich nie gehört. Fernerholung. Wie kommst du auf das Wort? Naherholung gibt es, und in unserem Falle liegt das hinter Kolkwitz. Alles, was weiter weg liegt, ist einfach Erholung.
Am kleinen Kolksee mieten wir jedenfalls den Kahn. Am großen steht das Schloss. Da wohnt deine Tante? Da wohnen Kinder, und bei den Kindern arbeitet Loni. Heute bis um zwei. Viertel nach eins geht der Bus. Ich hol sie ab, und wir gehen still durch den Wald zum kleinen Kolksee und mieten dort das Boot.
Ich habe nichts weiter vor, sagte Josef.
Dann komm mit, sagte Stefan. Wir lassen uns schon nicht stören. Kann ja sein, es findet sich noch wer, der Lust auf Bootfahren hat. Loni arbeitet nicht alleine bei den vielen Kindern. Eine ihrer Freundinnen hat vielleicht Lust auf Bootfahren.
Sie nahmen den Bus Viertel nach eins und standen auf der hinteren Plattform. Zwei Stationen später stieg sie ein. Er hatte sie sofort gesehen, als die Tür aufging. Dunkles Haar, halblang, das ihr Gesicht fast verdeckte, und er sah die kleine Kopfbewegung und wie das Haar nach beiden Seiten zurückfiel. Die Stirn und die Augen. Warum sah sie ihn nicht an.
Vor ihr stieg eine Frau ein mit zwei kleinen Kindern, und er und Stefan hoben die Kinder in den Bus, halfen auch der Frau. Wo war das Mädchen? Er war erschrocken, dass sie plötzlich verschwunden war. Der Bus fuhr schon wieder. Alles nur Sekundenbruchteile. Eben stand sie noch da, blaurotes Kleidchen, sehr kurz, und sie hatte ihn nicht ansehen wollen.
Sie war vorn eingestiegen. Da saß sie, und es war viel Platz ihr gegenüber und neben ihr.
„Warum setzen wir uns nicht“, fragte Josef.
„Sie arbeitet auch dort“, sagte der Südschwede.
„Kennst du sie?“
„Flüchtig. Sie ist nie dabei, wenn irgendwas gefeiert wird oder beim Baden. Sie fährt immer sofort nach Hause.“
„Scheu“, sagte Josef.
„Sie heißt Ute“, sagte Stefan.
„Was weißt du noch?“
„Nichts. Hat Abitur gemacht und kam dann dorthin. Bleibt aber nicht. Sie will studieren.“
„Und noch?“
„Ihr Vater muss Arzt sein oder so was. Wenn ich sie mal im Bus sehe oder wenn sie zur Nachtwache kommt und Loni ablöst, immer hat sie ein Buch und liest.“
„Liest vielleicht zu viel“, sagte Josef. „Das gibt’s. Und kommt nicht zum Leben. Jetzt guckt sie aus dem Fenster. Komm, wir setzen uns.“
Stefan schüttelte den Kopf.
„Du stellst sie mir vor. Wir quatschen sie an.“
„Hat keinen Sinn.“
„Vielleicht fährt sie zum Bootfahren.“
„Sie fährt zur Arbeit. Um zwei.“
„Kann sein, ja.“ Und dann fragte Josef: „Wie lange fahren wir noch?“
„Zehn, zwölf Minuten.“
„Ich geh jetzt hin.“
Josef setzte sich auf den Fensterplatz ihr gegenüber und sagte: „Guten Tag, Fräulein Ute. Ich heiße Josef. Ich stehe dort mit dem Freund von Loni. Vielleicht fahren Sie auch zur Naherholung.“
„Bitte, wohin?“, fragte sie. Kleine, weiche Stimme, die genau zu ihr passte. Und schon wandte sie den Blick ab, sah auf seine Hände, die nichts anzufangen wussten.
„Ich meine, zum Bootfahren“, sagte er. „An den See.“
„Nein“, sagte sie und war nicht abweisend, aber zugänglich war sie ebenso wenig. Sie gab Antwort und blickte aus dem Fenster. Schön war sie, und ihre Augen waren am schönsten, wenn sie einen ansah. Das tat sie nur einmal und viel zu kurz. Augen von irgendeinem Grün. Josef sah, dass es verschiedene Grüntöne waren, mindestens zwei oder drei. Und innen heller als außen. Treffe ich den Südschweden an der Milchbar, dachte Josef. Und steige hier ein. Wo wäre ich sonst? Was sage ich jetzt?“
Erstmals 1986 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Addio, Bradamante. Drei Geschichten aus Italien“ von Waldtraut Lewin: Die Autorin hat berühmte und sehr verschiedene italienische Landschaften und Städte besucht. In die Toskana, nach Rom und Sizilien führen die drei Erzählungen dieses Buches, Reisebericht und mitreißendes Erlebnis zugleich. Zahlreich sind die Stationen und die Begegnungen mit den Bewohnern des Landes. Die toskanische Schäferin Cincia, die mit der Besitzerin des alten romantischen Turmes in Fehde liegt, Fortunata, die Tänzerin in Rom, deren Traum vom Aufstieg zur Primaballerina zerbrochen ist, vor allem aber Bradamante, den alten Rittergeschichten entstiegen: sie alle und andere mehr sind lebendig, liebenswürdig in ihrem Temperament und interessant in den Fragen, die sie beschäftigen. Spannende Abenteuer lassen nicht auf sich warten, und Geheimnisse wollen gedeutet sein. Die erste der drei italienischen Geschichten beginnt mit einem guten Rat an die Besucherin aus der DDR:
„Der Turm und der Ölbaum
Eine Geschichte aus der Toskana
Auf dem Lande wohnt man billiger als in der Stadt, hatte man mir gesagt. Außerdem sieht ein Hotel wie das andere aus. Ich aber wollte Dinge sehen und erleben, wie sie nicht jedem Touristen begegnen. Freunde hatten mir die kleine Herberge gleich an der Straße empfohlen, dort sei es preiswert, und man würde freundlich behandelt, als gehöre man zur Familie. Aber es war Wochenende, und wider Erwarten gab es kein freies Bett.
„Das Wetter war so lange schlecht“, sagte der geschäftige Wirt, „nun haben die Leute die ersten schönen Tage zu einem größeren Ausflug genutzt. Von hier aus sind es ja nur zehn Minuten bis zum See, wissen Sie, und vielleicht kann man sogar schon baden.“
Das war für einen Italiener eine kühne Vermutung. Ende Mai geht man hier gemeinhin noch nicht ins Wasser. Ein Bad unter zwanzig Grad wird als Martyrium angesehen, und der Trasimeno-See, von dem der Wirt redete, hatte höchstens achtzehn Grad zu dieser Zeit.
Aber wie dem auch sei, es war kein Zimmer zu haben. „Versuchen Sie es doch im Ort“, sagte der Wirt in Eile.
Ein bisschen enttäuscht begab ich mich dorthin. Um diese Jahreszeit, so zwischen Frühling und Sommer, war es in der Toskana am schönsten, warm, aber nicht zu heiß, und das Grün der Landschaft noch nicht versengt von der glühenden Sonne des Juli und August. Ungefähr auf der „Wade“ des Stiefels Italien befand ich mich, an der Grenze der Provinzen Umbrien und Toskana. Hier gedeihen Wein und Oliven, die braunen Bauernhäuser liegen wie geometrische Figuren an die sanften Hügel geschmiegt, und die Zypressen säumen die Wege zu den Gehöften wie Ausrufezeichen. Es ist eine der schönsten Landschaften Italiens, die jedem etwas bietet: der große Trasimeno-See ist für alle, die gern am Wasser sind, die Ausläufer des Apennin mit dem Monte Amiata für die Freunde der Berge – man kann da sogar Ski laufen! Und wer sich für schöne Städte und Kunstschätze interessiert, für den sind von Florenz bis Assisi so viele da, dass einem der Kopf schwindeln kann.
Weiter oben auf den Hügeln, wo keine Felder mehr sind, beginnt die Macchia, der Buschwald aus Eichen, Weißdorn, Stechpalmen, wilden Rosen, Thymianbüschen und Ginster. Von dorther kam mir mit Glockengeläut eine Schafherde entgegen. Zwei schwarze Hunde umkreisten sie, der Schäfer ging am Schluss. Als sie näher herankamen, sah ich, dass es eine Schäferin war, eine zierliche junge Frau. Sie trug derbe Schuhe, ein buntes Halstuch und einen Schäferstab in der Hand. Aus ihrer Schäfertasche, die ihr an Bändern über der Schulter hing, ragte ein dickes in Leder gebundenes Buch mit Goldschnitt hervor, das sie, als sie meiner ansichtig wurde, tiefer in die Tasche hineinstopfte. Um ihr gebräuntes Gesicht war blondes Haar gescheitelt, geflochten und aufgesteckt, dass es fast wie eine Krone aussah.
Wie auf dem Lande üblich, grüßten wir einander freundlich. Die Schäferin blieb stehen, während ihre Herde rechts und links des Hohlweges das saftige Gras abzuweiden begann, und fragte: „Wollen Sie unser schönes Tal besuchen?“
„Ich wollte“, sagte ich, „aber es scheint, es gibt Probleme mit dem Quartier. Wenn ich im Ort nichts finde …“
„Sie finden bestimmt etwas“, sagte die Schäferin lebhaft. „Fragen Sie nach einem Haus, das II Molino genannt wird. Es ist oft unbewohnt, weil ich im Sommer meist im Pferch bei meinen Schafen schlafe. Sie können hineingehen, es ist unverschlossen. Sagen Sie der Schwelle ein paar freundliche Worte.“
„Was soll ich tun?“, fragte ich verwirrt.
Die Schäferin errötete. „Das ist nur so ein Sprichwort. Aber ich finde schon, dass man auch zu einem Haus höflich sein sollte.“
„Und ich soll einfach hineingehen?“
„Ja natürlich. Fragen Sie nach Cincias Mühle und machen Sie sich’s bequem.“
Cincia, die Blaumeise, hieß sie also – oder Bachstelze? Jedenfalls ein hübscher Name. Sie gefiel mir überhaupt, wiewohl ich etwas unsicher war, ob es anginge, allein ein fremdes Haus zu betreten.
„Und der Mietpreis? Was soll die Herberge denn kosten?“, erkundigte ich mich.
„Darüber reden wir später“, winkte Cincia ab. Ihre Schafe zogen langsam talwärts. Sie musste ihnen nach. „Bis bald!“
Angenehm beruhigt setzte ich meinen Weg fort. Der Ort lag in einem weiten Tal rechts und links der Chaussee. Ein Flüsschen begleitete den Hauptweg, und soweit das Land flach war, wuchsen Reben und Bohnen, Paprika und Tabak. Auf den Hügeln breiteten sich Terrassenkulturen aus, Ölbaumhaine vor allem.
Von der viel befahrenen Landstraße zweigte ein kleinerer Weg ab, den hatte ich eingeschlagen, sah ich doch einen viereckigen Glockenturm zwischen den Ulmen aufragen und dachte, wo die Kirche ist, muss das Zentrum des Ortes sein. Da kann ich ja nach II Molino, der Mühle, fragen.
Als ich näher kam, stellte sich aber heraus, dass der Turm gar nicht zur Kirche gehörte. Die Kirche war ein Kirchlein, nicht größer als ein Haus, und lag im Schatten dessen, was ich für den Campanile gehalten hatte. Dies aber war ein mächtiger Wehrturm, gebaut aus fahlgelben Bruchsteinen, zinnengekrönt. Ob vor ein paar Hundert Jahren hier ein trutziger Großgrundbesitzer ein Bollwerk gegen rivalisierende Adlige errichtet hatte, ob es ein Zufluchtsort der Bevölkerung in Zeiten der Gefahr gewesen war? Ich stand vor dem imposanten Bau. Die schwere Tür aus Eichenholz trug schwarze Eisenbeschläge und war mit einem gewaltigen Schloss versehen, die Fenster, blank geputzt, befanden sich sehr weit oben.“
Erstmals 1987 veröffentlichte Albrecht Franke im Union Verlag Berlin seine Erzählung „Zugespitzte Situation“: Ob er den Verlag ruinieren wolle? Das wurde der Autor von verantwortlichen Personen des Union Verlages Berlin gefragt, als er dort das fast fertige Manuskript dieser Erzählung präsentierte. Denn Literatur, die sich im Rahmen des DDR-Bildungswesens ereignete, bot Konfliktpotenzial, war doch die Frau des mächtigsten Mannes des Landes die zuständige Ministerin. Konflikte entstanden tatsächlich, aber Außengutachten führten dazu, dass das Buch 1987 und 1989 sogar in zweiter Auflage erscheinen konnte. Rezensenten bemängelten jedoch den fehlenden Optimismus und die Nichtanwesenheit eines Parteisekretärs, der sich der zugespitzten Situation annahm. Diese entsteht, als der Lehrer Christian Dannenberg das Ausmaß der indolenten Bequemlichkeit begreift, die sich seiner bemächtigt hat. Einst mit Begeisterung in seinen Beruf gegangen, hat er sich eine Hornhaut zugelegt, ist ein routinierter Stoffvermittler und Zensurengeber geworden. Und nun der Sturz: Ein vierzehnjähriges Mädchen seiner Klasse hat versucht, sich die Pulsader aufzuschneiden. Nach dem ersten Schreck beginnt bei Dannenberg das Nachdenken: über sich, seine Ehe, die Kollegen und Bekannten und darüber, wie er sich jetzt verhalten soll. Die Sache des Mädchens wird zu seiner eigenen, und er muss sich eingestehen, dass der Zweifel am eigenen Verhalten umfassender ist.
Das Schulsystem, die Lebensentwürfe, die den Hintergrund dieser Erzählung bilden, gibt es schon lange nicht mehr. Und dennoch – die Fragen, die darin gestellt werden nach dem eigenen Versagen, der Risikobereitschaft, dem Verantwortungsbewusstsein, der Bereitschaft, Konventionen zu dehnen und zu strecken und vorgegebene Muster aufzugeben, die sind geblieben und wollen immer wieder beantwortet werden. Zu Beginn der Erzählung passiert etwas ganz und gar Ungewöhnliches und Christian Dannenberg weiß noch nicht, was geschehen ist. Man beachte auch den ebenso merk- wie bedenkenswürdigen Vorspruch des Autors zu seinem Text:
„Ich versichere, dass Ähnlichkeiten nicht ausgeschlossen und nicht beabsichtigt sind.
Albrecht Franke
- Teil
Ich hatte längere Zeit überhaupt nicht an Simone Kreuzner gedacht. Viele Probleme, darunter der Umzug in eine neue Wohnung, beanspruchten meine Aufmerksamkeit. Durch eine zufällige Begegnung mit Simones Vater geriet ich jedoch plötzlich in einen Strom von Erinnerungen.
Kreuzner fuhr mit einem Pferdegespann durch den Neubauring. Dass er in der Schoßkelle saß und kutschierte, sah ich allerdings erst, als wir uns auf gleicher Höhe befanden. Wir erkannten uns fast gleichzeitig. Kreuzner nickte mir knapp zu und trieb dann seine Gäule an. Ich sagte ebenfalls nichts, hob nur die freie Hand zu einer lässigen Grußgebärde. Wahrscheinlich hätte ich ihn angesprochen und mich nach Simone erkundigt, wenn sein Gruß freundlicher ausgefallen wäre. Aber konnte ich das überhaupt erwarten? Ging es um Simone oder um Nuancen der Freundlichkeit? Trotzdem konnte ich mich nicht entschließen, Kreuzner zu folgen. Ich bog sogar in einen tunnelartigen Hausdurchgang ein, als ich sah, dass Kreuzner am Ende der Straße anhielt, um die Kübel zu leeren, die man für die Sammlung von Küchenabfallen im Neubaugebiet aufgestellt hat. Mein Spaziergang endete wie eine Flucht.
Ist also doch nur Unsicherheit geblieben? Oder etwas wie eine Befürchtung, Schaden angerichtet zu haben? Vielleicht würde ich mich sicherer fühlen, wenn man mir Eigenmächtigkeit, Wichtigtuerei oder die Verletzung von Dienstvorschriften unterstellt hätte.
Aber alle hatten schweigend mein Vorgehen akzeptiert: Kreuzners, Simone, der Direktor, selbst Eveline. Ich habe mich nicht rechtfertigen müssen. Auch nicht deswegen jetzt, nach mehr als einem Jahr, der Versuch, die Vorgänge zu rekonstruieren. Vielmehr geht es darum, dass ich, was damals geschah, nicht als endgültig gelöst oder abgeschlossen empfinden kann.
Zurückdenken.
Reminiszenzen. Auch an das Gefühl von Ohnmacht und Sprachlosigkeit. Bezeichnend, dass immer nur von der „Sache Kreuzner“ die Rede war, mit einem Wort jongliert wurde, das einen Verstoß gegen die Disziplin assoziiert. Simone Kreuzners Tat als das anzusehen war am einfachsten, auf diese Weise ließ sie sich in den täglichen Schulbetrieb eingliedern, gewann den Schein von Normalität. Es war die Zeit, in der ich allmählich das Ausmaß der indolenten Bequemlichkeit begriff, die ich mir während des Jahrzehnts meines Lehrerdaseins nach und nach zugelegt hatte. Freilich, da waren gute Vorsätze, ein paar Extratouren, der Wille zum Anderssein und Andersmachen. Trotzdem begann ich, mir einzureden, dass allein gute Stoffvermittlung und Ruhe in den Klassen wichtig seien. Ansichten eines im Großen und Ganzen braven Pädagogen mit pünktlichen Gehaltshöherstufungen, regelmäßigen Prämierungen und einer Bronzemedaille für treue Dienste. Im Trott von Schuljahr zu Schuljahr, von Ferien zu Ferien, ein Leben wie am Schnürchen, in ruhiger, gleichmäßiger Bewegung.
Der Schnitt dann unerwartet, ein Sturz gleichsam. Vor einem Jahr schien es mir, als sei alles ohne jede Ankündigung gekommen. Inzwischen glaube ich, dass die Vorzeichen von mir nicht bemerkt wurden.
Das Bild muss unvollständig bleiben. Geordnete Fakten anstelle sich überschneidender Abläufe. Heftige Erschütterungen und ausgestandene Schrecken als Erinnerung.
Deutlich eingeprägter, zunächst glücklicher und triumphaler Tag Ende Mai, als zweiundzwanzig Prüfungsaufsätze endlich korrigiert, zensiert und mit der verlangten Analyse versehen waren. Den festgesetzten Termin hatte ich schon überzogen. Eine tagelang anhaltende Schwüle, der Lärm der sich auf der F 189 dahinschleppenden Blechkarawane, das Gekläff der am Treppengeländer der Kaufhalle nebenan festgebundenen Hunde und die stereofone Synthesizermusik, mit der ich alles übertönen wollte, hatten mir derart zugesetzt, dass ich mich am Rande des Nervenzusammenbruchs glaubte. Natürlich waren das Ausflüchte, faule Fische. In Wahrheit kann ich die Fehleranstreicherei nicht ausstehen. Immer heftiger hat sich mit den Jahren diese Abneigung bei mir ausgeprägt. Vor einem Jahr hatte ich mich sogar in einen regelrechten Widerwillen hineingesteigert. Es störte mich, dass die Schüler zu glauben schienen, sie müssten in der allgemeinen Hatz auf gute Resultate in ihren Aufsätzen Gedichte und Romane bejubeln, die ihnen, dessen war ich sicher, in den meisten Fällen gleichgültig waren. Hatte ich sie dazu verleitet?
Ich legte die nach Themen geordneten Arbeiten in eine Mappe, nahm meine Aktentasche und machte mich auf den Weg zur Schule. Nach der tagelangen Schreibtischhockerei hatte mich ein Drang nach körperlicher Bewegung befallen. Ich ließ das Auto stehen und holte mein Sportrad heraus. Ehe ich in stillere Seitenstraßen abbiegen konnte, musste ich an der Fahrzeugschlange vorbei, die sich tagsüber immer vor der nadelöhrartigen Durchfahrt eines mittelalterlichen Torturms bildete. Endlich erreichte ich freies Feld, die sanft gewellte Ackerlandschaft vor der Stadt. Darüber ein blassblauer Himmel mit schwachen, weit entfernten Lerchenstimmen darin. Dort sind die Straßen immer leer, in die ungünstig gelegenen kleinen Dörfer kommen nur selten Fremde, und die Einheimischen fahren erst gegen Abend, wenn die Arbeit in den Ställen und auf den Feldern getan ist, zum Einkaufen in die Stadt.
Das Schulhaus, auf einer kleinen Anhöhe, ist weithin zu sehen. Es ist eines der wenigen neuen Bauwerke des Dorfes, aber kein Typenbau, wie sie jetzt landauf, landab errichtet werden. Eigenheime mit Terrassen und Tiefgaragen sind in den Dörfern dieses Landstrichs noch selten. Die Menschen erhalten die alten Gehöfte, deren große Toreinfahrten abends und an arbeitsfreien Tagen geschlossen werden. Auf Fremde macht das einen abweisenden Eindruck. Und wirklich dauert es lange, bis man dazugehört, als Bekannter gegrüßt wird. Vielleicht macht die Zeit hier wirklich kleinere Schritte, ein Lehrer, den man ernst nimmt, wird immer noch »Kanter« genannt. Gemeinschaftssinn und Zusammengehörigkeitsgefühl müssen im Dorf nicht erst organisiert werden; wenn man hier wohnt, interessiert einen auch das Leben der Nachbarn. Die Kinder sind nicht so hektisch und nervös wie in den Neubauvierteln der Städte, Ausbrüche von Aggressivität selten. Als ich vor einigen Jahren hier zu arbeiten begonnen hatte (meine Versetzung ergab sich dadurch, dass Eveline, meine Frau, am Kreisgericht ihre erste Stelle als Richterin antrat), glaubte ich anfangs, in eine Idylle geraten zu sein. Ein Ort, um sich einzurichten, wo einem nichts passieren kann. So ähnlich hatte ich damals gedacht. Auch an diesem Maitag, bei Sonnenschein, gemächlich durch das Dorf radelnd, die durchgesehenen Prüfungsarbeiten in der Aktentasche, befiel mich wieder das angenehme Gefühl der Sicherheit.
Auf meinem Platz im Lehrerzimmer lag ein Zettel. Der Direktor ließ mir ausrichten, dass ich sofort zu ihm kommen solle. Die Aufforderung war rot unterstrichen. Ich nahm an, er hätte wegen der Aufsätze endgültig die Geduld verloren oder für meine Saumseligkeit einen Rüffel einstecken müssen, weil unsere Zensuren noch in der Statistik des Kreises fehlten. Wegen solcher Dinge waren wir uns in letzter Zeit immer öfter in die Haare geraten, an dem Tag legte ich mir ein paar Ausreden und Entschuldigungen zurecht – ich beharrte auf meiner frohen Stimmung.
Im Vorzimmer saß Frau Welter, die Sekretärin, vor ihrem mit Papier übersäten Schreibtisch und tippte eifrig. Sie machte mir ein Zeichen, dass ich zum Chef durchgehen solle. Den schien der Ordner mit den korrigierten Arbeiten nicht zu interessieren, er nahm ihn mir zwar aus der Hand, legte ihn aber ohne Weiteres zur Seite. Ich war für Sekunden irritiert, denn sonst pflegte er solche Konvolute unverzüglich und mit hoffnungsvollem Eifer durchzublättern. Ohne auf meinen Gruß geantwortet zu haben, wies er mir, nur mit einer Handbewegung, einen Platz in der Besuchersitzecke an. Als ich saß, blickte er mich aufmerksam an, gleichzeitig herrschte für wenige Sekunden eine für ein Schulhaus ganz ungewöhnliche Stille. Seufzend sagte er dann, dass großer Ärger im Anzuge sei. Nur selten lässt er seinen Stimmungen so freien Lauf. In solchen Momenten, wenn er einmal nicht den überlegenen, stets optimistischen Pädagogen mimt, finde ich ihn sympathisch. Dass er mir einen saloppen Umgang mit Lehrplänen zum Vorwurf machte und mir nach seiner Meinung zu legere Umgangsformen ankreidete, war mir nicht nur einmal zugetragen worden. Während ich noch überlegte, was nun schon wieder gegen mich vorliegen könnte, war er längst offiziell geworden, hatte sich hinter seinem Schreibtisch zu gerader Haltung aufgerichtet und die Gummibandkrawatte zurechtgezerrt. Von zwei Vorkommnissen habe er mir Kenntnis zu geben. Ich befahl mir, ruhig zu bleiben, weil ich wusste, dass gleich die Wörter „Ihr Schüler“ oder „Ihre „Schülerin“ fallen würden und dann Wut in mir aufstiege, weil diese Ausdrucksweise Mitschuld an zerbrochenen Fensterscheiben und bekritzelten Tischen unterstellt. Zu ähnlichen Gelegenheiten hatte ich schon Lust verspürt, ihm seine akkurat geordneten Signierstifte, mit denen er in pädagogischen Fachzeitschriften hervorhob, was er demnächst zitieren würde, vom Tisch zu fegen oder die Stundentafel, auf der ich von blauen Metallplättchen symbolisiert wurde, von der Wand zu reißen. Einmal hatte ich Eveline von meinen Anwandlungen erzählt. Sie war in Lachen ausgebrochen und hatte mir erwidert, dass man sich in Gerichtsverhandlungen noch ganz andere Sachen anhören und doch kaltes Blut bewahren müsse. Ich hatte mit der Frage die Oberhand behalten, ob kaltes Blut für einen Lehrer wünschenswert sei.“
Erstmals 1987 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig „Spiel gegen sich selbst. Feuilletons & Geschichten“ von Jürgen Borchert: Dieses Buch ist eine freundliche Einladung, eine Einladung zu Jürgen Borchert und zu seinen Texten. Das „Spiel gegen sich selbst“, das mit ebenso überraschend kombinierten wie lesenswerten „Auskünften zur Person“ eröffnet wird, versammelt seine schönsten Feuilletons, Geschichten und Miniaturen aus seinen Bänden „Klappersteine“ (1977), „Elefant auf der Briefwaage“ (1979) und „Efeu pflücken“ (1982) sowie bis dahin unveröffentlichte Texte und Arbeiten für regionale Publikationen.
Das Buch bringt Aufklärung über den Schriftsteller selbst und seine Art zu schreiben, über das Feuilleton und über die Kollegen, denen er sich verwandt fühlte. Dazu lese man vor allem seinen wunderbaren Text „Wie ich Auburtinist wurde“, in dem er auch erklärt, aus welchem persönlichen Gründen ihm Victor Auburtin schon ein Begriff war, ehe er auch nur ein einziges Feuilleton geschrieben hatte.
Und noch immer bemerkenswert ist nicht zuletzt der Schluss seiner „Auskünfte zur Person“, in denen Jürgen Borchert in dem Auswahlband schrieb: „Ich bin alt genug, um zu wissen, wohin ich gehöre. Ich mag es nicht, wenn man mir erklärt, wie ich denken soll. Ich schätze Brecht nicht sonderlich, halte aber seinen Satz aus dem Galilei, dass das Denken das größte Vergnügen der menschlichen Rasse sei, für einen der wichtigsten Sätze, die in diesem Jahrhundert gesagt worden sind. Ich wünsche, dieses Vergnügen würde zu einem allgemeinen Bedürfnis.“ Das Jahrhundert, von dem bei Borchert die Rede, ist allerdings inzwischen das vorige Jahrhundert. Hier die bereits erwähnte Selbstauskunft sowie das titelgebende Feuilleton:
„Auskünfte zur Person
Ich bevorzuge Tee. Ich bin mittelgroß und für meine Größe entschieden zu schwer. Ich rasiere mich nass. Ich bespritze mir bei Regenwetter stets die rechte Fußspitze bis zum Spann, obwohl ich mich doch so sehr vorsehe. Ich liebe weiträumige Landschaften und Kiefernwald. Ich schreibe meine Texte direkt in die Maschine. Ich bin verheiratet und habe eine Tochter. Ich trage Schlipse, die nicht immer zum Hemd passen. Ich habe kein Auto. Ich halte drei Tageszeitungen, zwei Wochenzeitungen und eine Literaturzeitschrift. Ich liebe Prag, alten Weinbrand und getrocknete Pilze. Ich habe bisher zwölf Bücher geschrieben, von denen zehn gedruckt worden sind. Ich halte Toleranz für eine Tugend. Ich habe panische Angst vor frei herumlaufenden großen Hunden (aber nur, wenn sie schwarz sind). Ich unterhalte mich gelegentlich mit meiner Briefträgerin. Ich würde gern einmal nach Island reisen. Ich verstehe nichts von Literatur (theoretisch). Ich war Fotograf, Student und Bibliothekar, ehe ich Schriftsteller wurde. Ich habe eine starke Zuneigung zu alten Gebäuden aus rotem Backstein. Ich halte nichts von Gesprächen mit dem Friseur. Ich bekomme viel Post und schreibe viele Briefe. Ich mag zu Weihnachten nur silberne Kugeln an meinem Tannenbaum. Ich nehme mir oft vor, den Keller aufzuräumen, tue es dann aber doch nicht. Ich bin Rechtshänder und auch sonst ziemlich normal. Ich esse sehr gern Fisch. Ich benötige jedes Jahr einen schmalen, dünnen Taschenkalender. Ich begeistere mich für Labyrinthe, Luftschiffe und Lexika. Ich halte Friedhöfe für sehr lebendige Orte. Ich schreibe morgens. Ich bin außerordentlich vergesslich. Ich bin weitsichtig und trage deshalb eine Brille. Ich beschimpfe das Betonhaus, in dem ich wohne, und schätze seine zivilisatorischen Segnungen. Ich lese am liebsten Biografien, Memoiren und Briefe. Ich ärgere mich über Schwarzfahrer in der Straßenbahn, über Druckfehler und über großsprecherische Transparente. Ich verabscheue Operettenmusik. Ich höre nicht zu, wenn man mit mir spricht. Ich habe, von meiner Arbeit abgesehen, keine Hobbys. Ich halte die These, Mecklenburg sei ein rückständiges Land (gewesen), für falsch. Ich bewundere Johann Sebastian Bach. Ich bin zurzeit frei von ansteckenden Krankheiten. Ich liebe den Zirkus, an erster Stelle den Musikalclown. Ich kann die Behauptung der Philanthropen, dass der Mensch gut sei, nicht unbedingt immer unterstützen. Ich hasse Bahnhofsklosetts, kalten Tabakrauch und die Wagenradkultur. Ich meine, der Mensch hat ein Recht auf sich selbst. Ich mag klares, stark perlendes, kaltes Selterswasser in einem hellen Glas. Ich bin ziemlich unsportlich, liebe es jedoch, den Handballern zuzuschauen. Ich bin Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Ich habe Kragenweite 43. Ich war bisher in Polen, der CSSR, der Sowjetunion, in Ungarn, in Belgien, in der Bundesrepublik Deutschland und in Westberlin. Ich finde es langweilig, Weiteres über mich zu sagen. Ich bin alt genug, um zu wissen, wohin ich gehöre. Ich mag es nicht, wenn man mir erklärt, wie ich denken soll. Ich schätze Brecht nicht sonderlich, halte aber seinen Satz aus dem Galilei, dass das Denken das größte Vergnügen der menschlichen Rasse sei, für einen der wichtigsten Sätze, die in diesem Jahrhundert gesagt worden sind. Ich wünsche, dieses Vergnügen würde zu einem allgemeinen Bedürfnis.
Spiel gegen sich selbst
Entweder, man gewinnt, oder man gewinnt nicht. Das heißt: entweder die Patience geht auf, oder sie geht nicht auf. Das kommt auf die Reihenfolge der Karten an, und diese wiederum hängt ab vom Mischen.
Ein Kenner könnte vielleicht die Karten eines doppelten Whistspiels so anordnen, dass eine mit ihnen gelegte Patience immer aufgehen muss. Das wäre aber langweilig; denn dann wüsste man ja von vornherein, dass die Patience aufgehen wird, und wozu soll man sie da erst legen?
Patience heißt Geduld, wörtlich genommen. Ungeduld steht ihr nicht an, Ungeduld verdirbt alles. Maria Stuart soll angeblich vor ihrem letzten, unwiderruflichen Gang eine Patience gelegt haben. Sie ging nicht auf. Maria verlor ihren Kopf. Es ist diese „Maria-Stuart-Patience“ allerdings einfach und fantasielos; sie führt schnell zum Ziel und geht fast niemals auf. Vielleicht, dass Maria Stuart sich des Urteilsspruchs ohnehin klar war und die chancenarme Patience absichtlich wählte, um die Schuld auf die Karten schieben zu können?
Andere Patiencen sind komplizierter. 104 Karten werden benötigt und ausreichende Mußestunden, ehe „Zopf“ oder „Harfe“ aufgehen. Das Ziel indes ist immer das gleiche: die Karten versammeln sich nach verschlungenen Wegen und höchst spekulativen Manipulationen zum Schlusse in acht Türmchen, je zweimal Herz, Pik, Karo und Kreuz, schön ordentlich von „2“ bis „As“ aufgetürmt. Eilige Leute können, falls es ihnen an der nötigen Patience fehlt, die beiden Whistspiele gleich zu Türmchen sortieren, das spart Nerven.
Meine Schwiegermama, die die verschiedensten Varianten des Spiels gegen sich selbst meisterhaft beherrscht, beeinflusst das Schicksal manchmal, indem sie sich ein wenig beschummelt und eine beim Aufdecken ungenehme Karte mit behänden Fingern wieder im Stoß verschwinden lässt. Das ist keineswegs unmoralisch: im Gegenteil. Soll die anstrengende Arbeit des Aus- und Anlegens der kompliziertesten Kartenfiguren etwa umsonst getan worden sein? Das wäre nicht ihre Art: Schwiegermama hat nie etwas Nutzloses getan in ihrem langen Leben. Wo ein Ziel winkt, ist auch Schummeln erlaubt, zumal kein Mitmensch da ist, der Schaden nehmen kann.
Patiencen haben etwas vom menschlichen Dasein an sich. Sie führen immer, auf komplizierten und verschlungenen Wegen, zu einem der beiden möglichen Ergebnisse. Entweder: es wird was draus, oder: es geht nicht auf.
Bei der Patience, immerhin, kann man von vorn beginnen.“
Ja, beginnen ist ein gutes Stichwort. Denn vielleicht sollte man noch einmal damit beginnen, sich hin und wieder einen Text von Jürgen Borchert vorzunehmen und sich daran – auch viele Jahre später – an seiner Art vergnügen, die Dinge zu sehen und in Worte zu fassen. Darin verbinden sich gut recherchierte Kenntnis mit der Leichtigkeit des Aufschreibens. Es lohnt sich. Ganz bestimmt.
Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Februar und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
Ach, wo wir schon mal dabei sind: Vielleicht finden Sie irgendwo auch noch ein Buch mit Feuilletons von Victor Auburtin? Zum Beispiel seine „Sündenfälle“ …
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