Kunsthaus Zürich zeigt «Füssli. Mode – Fetisch – Fantasie»
Heute wissen wir, was der Mehrheit des zeitgenössischen Publikums zu Füsslis Lebzeiten unbekannt blieb: seine private Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Frauenbild, das stark erotische Züge aufweist.
AUFREIZEND UND ABGRÜNDIG
Durch die Zusammenstellung von rund sechzig Werken bietet das Kunsthaus Zürich die einmalige Gelegenheit, den Zeichner Füssli in seiner innovativsten und aufregendsten Form zu erleben, als Autor einer faszinierenden Bilderwelt, die sich ebenso aufreizend wie abgründig ausnimmt.
FÜSSLIS BILD DER MODERNEN FRAU: HERAUSFORDERND, SELBSTBEWUSST
Wo man idealisierte Körper in den anmutigen Posen und Proportionen antiker Statuen erwarten würde, begegnen uns stattdessen Frauen, deren Körper durch steife Mieder, Taillenbänder, gerüschte Ärmel und spitze Schuhe definiert und deren Köpfe von Frisuren der komplexesten und bizarrsten Art gekrönt werden. Füssli zeigt nicht die unterwürfigen und erotisierten Akte von Malern wie Boucher, Fragonard oder Ingres, sondern seine weiblichen Figuren nehmen eine betont herausfordernde Haltung ein. Selbstbewusst erwidern die Frauen die Blicke der Betrachterinnen und Betrachter oder ignorieren diese gänzlich. In der Regel präsentiert Füssli seine Frauen als Einzelfiguren, die geradezu unnahbar auftreten. In Gruppen versammelt, können ihre Aktivitäten geheimnisvoll wirken; in erotischen Szenen wiederum scheinen die Frauen stets die Kontrolle zu wahren.
PSYCHOLOGISCH AUSSAGEKRÄFTIGE WERKE
Im Zuge wissenschaftlicher Versuche, diesen Aspekt von Füsslis Kunst zu erklären – insbesondere seine Besessenheit mit höchst exzentrischen weiblichen Frisuren –, wurden mehr als einmal die Begriffe der Psychoanalyse verwendet, die helfen könnten, einige seiner unbewussten Motivationen zu entschlüsseln. Seine Darstellungen der modernen Frau als Figur von gesteigerter Macht sollten jedoch nicht unabhängig von den betont männlichen Helden analysiert werden, die Füsslis öffentliche Kunst dominieren: Beide sind gleichermassen symptomatisch für die Ängste der Männer vor einer Destabilisierung tradierter Geschlechterrollen, ein Phänomen, mit dem sich zahllose europäische Künstler und Schriftsteller während des achtzehnten Jahrhunderts beschäftigten.
EXTRAVAGANTE FRISUREN
Füsslis Interesse an der Darstellung der Frau schlägt sich in seinem zeichnerischen Schaffen besonders in den Jahren nach seiner Heirat mit Sophia Rawlins nieder, die damals Mitte zwanzig war. Füssli war seiner zukünftigen Frau zum ersten Mal begegnet, als er sie als Modell anstellte, und sie posierte noch lange Zeit nach der Eheschliessung für ihn. Rawlins Züge sind in vielen von Füsslis Zeichnungen zu erkennen, obwohl kaum Zweifel daran besteht, dass nur wenige Blätter tatsächlich als Porträts gedacht waren. Anstatt sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, schenkte der Künstler ihrer ständig wechselnden Frisur deutlich mehr Aufmerksamkeit und stellte akribisch die äusserst komplizierten Arrangements aus dicht aneinandergereihten Locken, Schleifen und Bändern dar, die weit über die Standards der Coiffeure des späten achtzehnten Jahrhunderts hinausgingen.
WERKE VON GRÖSSTER TECHNISCHER KOMPLEXITÄT
Zweifelsohne hat Füsslis Interesse an der weiblichen Figur seinem zeichnerischen Schaffen neue Wege eröffnet; es gibt in seiner gesamten zeichnerischen Produktion keine Werke von grösserer technischer Komplexität. In Ausstellung und Katalog werden die Vielfalt der weiblichen Frisuren, die Rolle und Präsenz von Sophia Rawlins in Füsslis Werk und das neue Bild der selbstbewusst auftretenden weiblichen Figur untersucht sowie der Einfluss des libertären Umfelds auf die kreative Vorstellungskraft des Künstlers.
ZEICHNUNGEN FÜR WEN? RÄTSEL UMS PUBLIKUM
Eines der grössten Rätsel, das diese Zeichnungen umgibt, betrifft die Identität ihres ursprünglichen Publikums und ob Füssli die Arbeiten überhaupt jemals jemandem gezeigt hat. Die Indizien deuten darauf hin, dass sie zu seinen Lebzeiten nur von wenigen Künstlerkollegen sowie von einem erlesenen Kreis klassisch gebildeter Männer rezipiert wurden. Dass sich Füssli mit diesen Blättern nie an ein grosses Publikum gerichtet hat, erscheint nur allzu nachvollziehbar, sind seine zutiefst ambivalenten Darstellungen von ermächtigter Weiblichkeit doch alles andere als unproblematisch. Für das heutige Publikum indes erweisen sie sich von grösster Relevanz, jetzt, wo sich die Gesellschaft verstärkt mit der komplexen Beziehung von Kunst, Geschlecht und Macht auseinandersetzt.
SELTEN ZU SEHENDE LEIHGABEN AUS DEN USA, KANADA UND NEUSEELAND
Die Ausstellung «Füssli. Mode – Fetisch – Fantasie», in Zürich kuratiert von Dr. Jonas Beyer, entstand in enger Zusammenarbeit mit The Courtauld, London. Die Zusammenarbeit ermöglichte es dem Kunsthaus, Leihgaben aus verschiedensten Ländern – neben den USA auch aus Kanada und Neuseeland – zusammenzutragen. In solch konzentrierter Form wird diese faszinierende Facette des in England zu Ruhm gelangten Schweizers kaum ein weiteres Mal zu sehen sein. Dem Publikum eröffnet sich damit die einmalige Gelegenheit, neben dem «offiziellen» Füssli diese sehr private, zeichnerische Seite des «Wild Swiss» kennenzulernen.
PUBLIKATION UND FÜHRUNGEN
Füssli: Mode – Fetisch – Fantasie. Ein Katalog mit Beiträgen von Jonas Beyer, Mechthild Fend, Ketty Gottardo und David H. Solkin in Zusammenarbeit mit The Courtauld, London. Broschur, 168 Seiten, 145 farbige Abbildungen. Die deutsche Ausgabe ist im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen, die englische Ausgabe bei Paul Holberton Publishing, London. Erhältlich für CHF 39.– im Museumsshop und in Buchhandlungen.
Öffentliche Führungen finden statt samstags 25. Februar, 11./25. März um 11 Uhr sowie donnerstags 6./20. April, 4. Mai, 11. Mai um 18.30 Uhr.
Unterstützt von der Elisabeth Weber-Stiftung, der Boston Consulting Group sowie von Albers & Co AG. Der Katalog wurde unterstützt von der Wolfgang Ratjen Stiftung, Vaduz.
Kunsthaus Zürich/Zürcher Kunstgesellschaft
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