Buchrezension: Ian Kershaw: Der Mensch und die Macht – Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert
Zum Buch
Auf fast 600 Seiten analysiert Kershaw zwölf Geschichtsmacher zu ihrer Zeit. Einleitung Schlussbetrachtungen, Danksagungen und Anmerkungen rahmen das Werk ein. Die Kapitel gliedern sich in Biographie und Analyse. Dabei stützt sich der Autor nicht auf eigene Forschungen (außer bei Hitler), sondern greift auf vorhandene Literatur zurück. Neu sind also nicht unbedingt die historischen Fakten, sondern die Darstellung der Wechselwirkung von historischem Wandel und der jeweiligen Führungspersönlichkeit. Kershaw konstatiert jedoch: „Es gibt keine mathematische Formel für die relative Gewichtung der persönlichen und unpersönlichen Faktoren, die eine historische Veränderung bewirkt haben“ (S. 33).
Statt theoretisch und philosophisch sich dem Thema der politischen Größe zu nähern, nimmt der Historiker den direkten Weg und taucht in die Zeitgeschichte ein, indem er die historische Wirkung, die Nachwirkung und konkrete Hinterlassenschaft darstellt. Dabei richtet er sein Augenmerk nicht auf das jeweilige Charisma der politischen Führer, sondern vor allem auf die historischen Umstände. Denn zeitliche Bedingungen haben eine unmittelbare Auswirkung auf bestimmte favorisierte Persönlichkeitstypen, denn Diktaturen folgen anderen Prinzipien als prosperierende pluralistische Gesellschaften. Auch die Quellen der Macht werden von den jeweiligen historischen Umständen bestimmt und zeigen sich in ideologischer, ökonomischer, militärischer oder politischer Macht.
Zum Punkt
Das Buch liest sich trotz seiner Länge flüssig und eignet sich auch für Laien, die mehr über die europäische Geschichte erfahren wollen. Im Vordergrund steht jedoch die wissenschaftliche Fragestellung und deren gründliche und differenzierte Analyse. Wer hier neue, interessante historische Details erwartet, muss sich an anderer Stelle bedienen. Klarheit in der geschichtlichen Darstellung und historische Tiefenschärfe zeichnen die Darstellung aus. Auch wenn die Fragestellung nicht eindeutig beantwortet werden kann, so wird doch deutlich, dass sich bei allen Unterschieden persönliche Merkmale ausmachen lassen, die allen zwölf Politikern gemeinsam sind. Alle waren zielstrebig, charakterstark und voller Erfolgswillen, der auch als eine gewisse Egozentrik gedeutet werden kann. Sie waren „Getriebene“ mit der Mission, das Schicksal zu gestalten. Moral spielte eine untergeordnete Rolle, eher die Hoffnung auf nationale Größe, die jedoch stets der Zeitlichkeit unterworfen ist.
Claudia Mohr
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