Haiti – die vergessene Krise
Es war der Hunger, der die Schüler einer Sekundarstufe in Haiti an diesem Mittag in ihre Schulküche trieb. Plötzlich standen knapp 40 von ihnen zwischen Töpfen und Geschirr. Der Blick entschlossen, die Forderung verzweifelt: Wenn sie heute nichts von dem Essen bekommen, dann auch niemand sonst. Die Schule wurde an diesem Tag aus Hilflosigkeit blockiert. "Es ist die Verzweiflung und der Hunger, die ein Kind zu so etwas bringen", weiß Heidrun Mürdter, Vorständin der nph Kinderhilfe.
Das Essen, das die Schülerinnen und Schüler bis zur 10. Klasse an der Schule der Fondation St. Luc, Partnerorganisation von nph in Haiti, erhalten, ist oft ihre einzige Mahlzeit am Tag. Möglich macht das die Kooperation mit dem lokalen Partner "Bureau de Nutrition et de Développement" (BND), der sich auf Lebensmittelsicherheit spezialisiert hat. Das Problem: Schüler ab der 10. Klasse sind kategorisch aus dem Programm des BND ausgeschlossen, da es sich explizit an Kindergarten- und Grundschulkinder richtet, die von Mangelernährung betroffen sind. Die Jugendlichen gehen leer aus.
Und das nicht nur an ihrer Schule. Würden zuhause Lebensmittel warten, wäre die Reaktion der Jugendlichen anders ausgefallen. Doch auch dort bleiben die Töpfe leer, und die anderen Familienmitglieder ebenfalls hungrig.
Jedes dritte Kind im St. Damien Kinderkrankenhaus unterernährt
War die Lage in Haiti bereits in den vergangenen Jahren kritisch, so ist sie jetzt katastrophal. Laut Analyse der Integrierten Phasenklassifikation der Ernährungssicherheit (IPC) sind 4,9 Millionen Haitianer akut von Ernährungsunsicherheit betroffen und benötigen dringend humanitäre Hilfe. Mittlerweile leidet rund jedes dritte Kind, das im St. Damien Kinderkrankenhaus von nph behandelt wird, unter Mangelernährung. Im vergangenen Jahr wurden zum ersten Mal mindestens 19.000 Bewohner des Inselstaats zur fünften und damit kritischsten Stufe des IPC gezählt. Diese Menschen haben nur Zugang zu einer oder zwei Nahrungsmittelgruppen und nehmen täglich viel zu wenig Kalorien zu sich. Ihr Hunger ist so groß, dass sie an körperlichen Schmerzen leiden. Auch für 2023 wird eine solche Situation prognostiziert.
Inflationsrate im Januar bei fast 50 Prozent
Die Gründe für die Lage in dem Land, dessen Präsident Jovenel Moïse 2021 ermordet wurde, sind komplex und eng miteinander verwoben. Die steigende Inflation, die im Januar 2023 bei 49,3 Prozent lag, treibt vor allem die Preise der Grundnahrungsmittel in die Höhe. Familien, die schon vorher nicht satt werden konnten, kämpfen nun wortwörtlich ums Überleben. Alle Rekorde bricht außerdem die Inflation im Bereich Energie und Transport mit 120,8 Prozent. Sie erschwert nicht nur den Warengüterverkehr, sondern hindert auch die Menschen daran, sich in ihrem Land frei zu bewegen. Wer sich den öffentlichen Transport nicht leisten kann, ist in seinem Alltag extrem eingeschränkt – mit weitreichenden Folgen für Bildung, Erwerbstätigkeit, Ernährung und Gesundheit.
UN-Generalsekretär Guterres fordert Eingreifen
Verantwortlich für den Anstieg der Inflation ist unter anderem auch die Sicherheitslage, die den Verkehr stark einschränkt. Bewaffnete Banden kontrollieren fast das ganze Land, samt einem Großteil der Hauptstadt Port-au-Prince. Sie übernehmen regelmäßig die Kontrolle über Tankstellen, Straßen und wichtige Gebäude. Entführungen, Vergewaltigungen und wahllose Tötungen nehmen zu, die Brutalität hat enorme Ausmaße angenommen. Um die eskalierende Gewalt einzudämmen, hat UN-Generalsekretär Antonio Guterres nun den dringenden Einsatz internationaler Kräfte gefordert. Die Situation in Haiti sei vergleichbar mit der von Ländern im Krieg.
"Brutale Ereignisse, überall und jeden Tag"
"Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie groß der Terror ist, der die Menschen hier umgibt", berichtet jüngst auch Gena Heraty, nph-Mitarbeiterin in Haiti. Pater Richard Frechette, Priester und Arzt, der seit Jahrzehnten für nph auf Haiti aktiv ist, ergänzt: "Wir sind ständig von brutalen Ereignissen umgeben. Überall und jeden Tag."
Enge Zusammenarbeit mit Einheimischen kommt nph zugute
Während sich viele Hilfsorganisationen aus dem Land zurückziehen mussten, kann nph Haiti wegen der engen Zusammenarbeit mit Einheimischen alle seine Programme vor Ort weiterführen. Die Unterstützung ist mittlerweile wichtiger denn je. Auch für die Sekundarschüler der eingangs erwähnten St. Luc Schule. Verständnis für ihre Lage, intensive Gespräche und eine gelungene Handhabung vor Ort haben die Situation in der Schulküche entschärft. Auch wenn es zu wenig war, wurde das vorhandene Essen aufgeteilt und der Unterricht konnte fortgesetzt werden. Die nph Kinderhilfe Lateinamerika e.V. hat nun die Kosten übernommen und damit ermöglicht, dass auch die älteren Schülerinnen und Schüler in diesem Schuljahr ein Mittagessen erhalten. Eine nachhaltige Lösung für die Zeit danach gibt es bisher jedoch keine. Doch nph Haiti bleibt an der Seite der Kinder in Haiti.
nph Kinderhilfe Lateinamerika e.V.
Tullastr. 66
76131 Karlsruhe
Telefon: +49 (721) 35440-0
http://www.nph-kinderhilfe.org/
E-Mail: nadine.fissl@nph-kinderhilfe.org