Familie & Kind

Aktuelle Zahlen belegen immer mehr häusliche Gewalt – Was ist eigentlich mit den betroffenen Kindern?

Wie die "Welt am Sonntag" im Juni berichtete, wurden im vergangenen Jahr bundesweit 179.179 Opfer so genannter häuslicher Gewalt polizeilich registriert. Das entspricht demnach einem Anstieg von 9,3 Prozent gegenüber dem Pandemiejahr 2021. Als Täter werden dem Bericht zufolge Partner, Ex-Partner und Familienangehörige erfasst. Zwei Drittel der Opfer sind Frauen. Die Dunkelziffer ist hoch, weil viele Angst haben, Anzeige zu erstatten.

Was ist bloß los in unserem Land?

In über 50% der polizeibekannt gewordenen Fälle handelt es sich bei den Opfern um Frauen mit Kindern. Kinder, die unmittelbar oder mittelbar Opfer der Gewalt zu Hause wurden. Kinder, die nicht wissen, wie sie mit der Gewalt gegen den anderen Elternteil umgehen sollen, Kinder, die Schuldgefühle entwickeln, weil sie dem nahestehenden Opfer nicht helfen konnten, die teilweise, so scheint es, Partei ergreifen für den schlagenden Elternteil, ohne dass ihre wahre Motivation erkannt wird. Häufig tun sie dies, um sich selbst zu schützen oder sich ihre Ohnmacht nicht eingestehen zu müssen, andere Kinder ziehen sich in sich zurück, weil sie sich schämen, all das sind nur eine paar Beispiele für die schlimmen seelischen Verletzungen, die sie erleiden.

Mit weitreichenden Folgen- derartige posttraumatische Belastungen können das Leben der Betroffenen noch Jahrzehnte danach bestimmen, sie krank machen. Es ist schockierend, dass es immer noch Jugendämter gibt, in denen Gewalt gegen den anderen Elternteil „nur“ als Partnergewalt und nicht als Kindeswohlgefährdung betrachtet wird. Es sind Jugendämter, die in unverantwortlicher Weise, Wert auf Umgang mit dem schlagenden Elternteil legen, weil es angeblich dem Kindeswohl schaden könnte, wenn das Kind danach (zumindest zeitweise oder teilweise) keinen Umgang mit dem Gewalttäter hat.

Aber was soll ein Kind von einem schlagenden Elternteil lernen? Dass der Prügelnde der Stärkere ist und Recht bekommt, dass wer schreit und schlägt, Recht hat? Dass Gewalt ein legitimes Mittel ist, sich durchzusetzen? „Wenn Kinder so etwas vermittelt bekommen und es sie später in ihrem Erwachsenenleben bestimmt, macht mir das Angst. Wie wollen sie eine gleichberechtigte Partnerschaft führen? Wie ihre Kinder liebevoll erziehen? Und was passiert, wenn ihnen in ihrer Funktion etwa im sozialen Bereich als Altenpfleger, hilfsbedürftige Menschen anvertraut werden“, so Rainer Becker, Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e. V.Verstörend ist, dass oftmals selbst Familiengerichte derartige Umgangsbeschlüsse fassen.

Deutschland ist 2018 der Istanbul-Konvention beigetreten, die damit den Charakter eines Bundesgesetzes hat. Das bedeutet, dass sich Politik, Gerichte und Verwaltung verbindlich an deren Regelungen zu halten haben. Doch die Realität sieht oftmals anders aus. Dabei wurde Deutschland im aktuellen GREVIO- Bericht zur Umsetzung der Istanbul- Konvention offiziell dafür gerügt, dass einige Regeln der Vereinbarung bei uns nicht oder nicht ausreichend eingehalten wurden und werden. Und hier wird insbesondere auch die konsequente Verhinderung von Gefahren für Kinder bei Besuchs- und Umgangskontakten benannt. Das Problem- genaue Zahlen hierzu gibt es nicht, weil sie in Deutschland nicht erhoben werden.

Auch das verstößt gegen die Istanbul-Konvention. Denn sie schreibt vor, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder systematisch zu erheben und auszuwerten ist. Aus Sicht der Deutschen Kinderhilfe ist es schamlos, wenn die Bundesregierung im Dezember 2022 auf eine Anfrage der Fraktion die Linke zur Einhaltung der Bestimmungen der Istanbul- Konvention antwortet, es lägen ihr keine Erkenntnisse vor, dass häusliche Gewalt in familiengerichtlichen Verfahren systematisch nicht angemessen berücksichtigt würde. „Damit ignoriert sie auch die in dem Grevio- Bericht festgestellten Mängel der tatsächlichen Umsetzung der Konvention“, so Rainer Becker. „Erschreckend und peinlich ist, dass die Bundesregierung hier auch noch einräumt, konkrete Aussagen zur gesetzlichen Ausgestaltung und zum weiteren Gesetzgebungsverfahren seien derzeit noch nicht möglich. Das, obwohl fünf Jahre Zeit war, die Regelungen der Istanbul Konvention in nationales Recht umzusetzen“, kritisiert der Ehrenvorsitzende. „Wenn wir Mitglied der EU sein wollen, müssen wir uns zwingend an europäische Werte und darauf aufbauende Vereinbarungen und Regelungen halten, denn insbesondere beim Thema Gewalt gegen Elternteile und damit auch ihre Kinder ist nichts verhandelbar“, so Beckers Fazit.

Mehr interessante Einblicke in das Thema „Häusliche Gewalt“ und ihre Folgen für Kinder erhalten Sie im untenstehenden Filmbeitrag u.a. durch ein Interview mit Frau Kati Voss, langjährige Beraterin in einer Interventionsstelle für häusliche Gewalt. Sie berichtet von ihren und den Erfahrungen ihrer Kolleginnen aus der Beratungspraxis. Die rechtliche Einordnung der Problematik nimmt der Ehrenvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e. V., Rainer Becker, Polizeidirektor und Hochschuldozent a. D. vor.

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