Neuro-Tango
Zu den aktivierenden Therapien gehören klassischerweise Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Aber es gibt auch einige zusätzliche Aktivitäten, die aktivieren und die klassischen Therapien unterstützen- wie zum Beispiel das Tanzen. Eigenaktivität und Bewegung im Alltag sind nicht zu unterschätzen.
Vom Spaßfaktor und den sozialen Gemeinsamkeiten abgesehen, werden beim Tanzen allgemein sehr viele grundlegende Funktionsübungen abgedeckt, die jedermann gut tun. Zusätzlich wirken sie auf einige Ausprägungen der Erkrankungen reduzierend: (Hackney & Earhart, 2009, 2010)
- Gleichmäßiges Gehen,
- Vorwärts- und rückwärts gehen
- Ausfall- und Schutzschritte
- Start- und Stoppsequenzen zur Überbrückung von Freezing
- Dual-Taskaufgaben
- Koordination verschiedener Körperteile
- Training des Körpergefühls und der Körperwahrnehmung
- Gedächtnistraining durch das Merken der Schritte und Abfolgen
Neben dem „versteckten“ Training sorgen verschiedene Faktoren beim Tanzen für eine erhöhte Sinnhaftigkeit. Es finden verschiedene Arten des Cueings statt: die Musik als akustischer Cue, der Kursleiter als visueller Cue, der Partner unterstützt durch taktiles Cueing. Zusätzlich spricht die Musik
verschiedene Hirnareale bis zu unserem Emotionszentrum an, wodurch unser Gehirn währenddessen auf verschiedenen Ebenen aktiv ist und Emotionen das motorische Lernen mit beeinflussen. Statt unseres „Grübelnetzwerks“ (Default-Mode-Netzwerk) wird das „Sinneswahrnehmungsnetzwerk“
(Direct-Experience-Netzwerk) während des Tanzens aktiv, wodurch mehr positive chemische Prozesse im Körper freigesetzt werden (Schlafhorst, 2020). Tanzen, besonders in einer Gruppe, wirkt biopsychosozial.
So viel zum Tanzen an sich. Warum aber nun „Neurotango“?
Das Neurotangokonzept von Simone Schlafhorst ist ein toolbasiertes System mit einfachsten Bewegungstechniken mit embodiment Effekt
(Auswirkungen auf psychische und biochemische Prozesse), die dem argentinischen Tango entlehnt sind, der wiederum gute Studien hinsichtlich der Symptomatik bei Parkinson hat. Das Konzept lässt sich auch ins Sitzen und Liegen adaptieren, wobei der Fokus dann weg vom Tanzen hin zu Musik- und
Rhythmusübungen verlagert wird und dadurch das Gehirn stimulieren. In dem Konzept werden drei Aufwärmübungen vorgeschaltet, die die Gehirnaktivität für motorische und kognitive Lernfähigkeit anregen: Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Konzentration, Koordination und Geschwindigkeit werden in Dual Task Aufgaben und durch Rhythmusschulung gefördert. Daraufhin finden sowohl Einzelübungen als auch Paartanzübungen statt. Das Konzept beinhaltet 15 Tools, die in heruntergebrochenen Übungen aus Figuren des Tangos entstanden sind. So lassen sich zum Beispiel Start- und Stoppschwierigkeiten im „2-Achsen System“ durch akustische und kognitive Strategien üben oder Ausfallschritte durch die
„Apperentida“. Einige Symptome lassen sich sehr gut mit bestimmten Tools verknüpfen und trainieren- ohne dass es ein deutliches Training ist. Es bietet Menschen mit verschiedenen Voraussetzungen und Fähigkeiten die Möglichkeit, mit dem Partner zu tanzen, Teil einer Gruppe zu werden und ungeachtet der Erkrankung mit Freude etwas für die Erkrankung zu tun – denn Tanzen macht Spaß, Tanzen aktiviert und Tanzen fördert oder fordert.
Hackney, M.E. & Earhart, G.M. (2009). Effects of Dance on Movement Control in Parkinson’s Disease:
A Comparison of Argentine Tango and American Ballroom. In: Journal of Rehabilitation Medicine. 41
(6) 475 – 481
Hackney, M.E. & Earhart, G.M. (2010). Effects of Dance on Gait and Balance in Parkinson Disease: A
Comparison of Partnered and Non-Partnered Dance Movement. In: Neurorehabiliatiation and Neural
Repair. 24 (4) 384-392
Schlafhorst-Biermann, S. (2023). Die perfekte Therapie
Weitere theoretische Hintergründe: Tango Therapie in der Wissenschaft
Das Parkinson Journal, vor drei Jahren als Blog des selbst an Parkinson erkrankten Jürgen Zender ins Leben gerufen, ist mittlerweile eine einzigartige Sammlung von Informationen und Tools rund um das Thema Morbus Parkinson geworden. Seine zahlreichen Beiträge (Texte, Videos, Ratgeber, Verzeichnisse oder Podcasts ), geschrieben oder produziert von namhaften Autoren oder Betroffenen selbst, sind über die Jahre zum Wegbegleiter vieler Betroffener, Angehöriger und Ratsuchender geworden. Wenn der Trend so bleibt, wie er sich bereits heute abzeichnet, werden das Parkinson Journal in diesem Jahr erstmals über 200.000 Seitenaufrufe erleben und auf Instagram die 7.000 Follower Marke überschreiten.
Es wird geschätzt, dass in Deutschland etwa 10 % der Parkinson-Kranken in Selbsthilfegruppen organisiert sind oder zumindest gelegentlich deren Angebote nutzen.
Das sind 40.000 von 400.000 Erkrankten. Es ist eines unserer Ziele, diese Zahl dauerhaft und stetig zu erhöhen, denn der Austausch mit „Leidensgenossen“, das reichhaltige Informationsangebot, die neu entstehenden Freundschaften, Sportarten, die man plötzlich (wieder) für sich entdeckt, die selbstgewählte Isolation, die man verlässt … all das sind gute Gründe, sich einer der zahlreichen Selbsthilfegruppen anzuschließen. Neben Beiträgen aus und über die Szene hilft uns dabei maßgeblich unser Verzeichnis der Parkinson-Selbsthilfegruppen und der Parkinson-Event-Kalender.
Für alle anderen, die noch nicht bereit sind, sich zu öffnen, wollen wir weiterhin ein Fenster zur Parkinson-Welt sein, deren Bewohner sie ohne eigenes Zutun geworden sind, und sie mit Wertschätzung und mit Herz und Verstand informieren.
Das zweite Ziel, das uns sehr am Herzen liegt, ist das Bewusstsein für Bewegung als eine der wenigen erfolgversprechenden, nicht medikamentösen Therapien zu schärfen. Immer mehr Studien zeigen, dass Sportarten wie Tischtennis, Nordic Walking, selbst Boxen einen positiven Einfluß auf die Symptomatik und Progredienz der bisher unheilbaren Krankheit haben.
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