Maßregelvollzug: so sieht der Alltag psychisch kranker Straftäter:innen aus
Begehen Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen oder einer starken Intelligenzminderung eine rechtswidrige Tat, werden sie – wenn die Tat im Zusammenhang mit der Erkrankung steht – als „nicht schuldfähig“ verurteilt. Ihre Unterbringung findet dann im Maßregelvollzug statt. Auch für Menschen mit einer Suchterkrankung, die im Rauschzustand gewalttätig sind oder wegen Beschaffungskriminalität verurteilt werden, ist der Maßregelvollzug eine Option: Zeigen sie sich im Verfahren therapiebereit, kann bei ihnen der Maßregelvollzug angeordnet werden. Maßregelvollzug bedeutet: Unterbringung in einer von der Außenwelt abgeschotteten psychiatrischen Klinik. Die Ankunft in einer solchen Einrichtung geht mit der Abgabe von Privatsphäre und Selbstbestimmung einher, alles ist geregelt. Und zwar so, dass niemand sich selbst oder andere gefährden kann, sämtliche Sicherungsaspekte berücksichtigt sind und der Ablauf des Klinikalltags möglichst reibungslos klappt. Persönliche Interessen stehen hinter all dem an. Derart massive Einschränkungen und Reglementierungen zu verkraften und sich an alle Vorgaben zu halten, fiele mit Sicherheit den meisten Menschen schwer. „Menschen mit einer psychischen Erkrankung machen die vielen Zwänge in einem derart restriktiven System, das Eingesperrtsein und die daraus entstehenden Emotionen sehr zu schaffen“, betont die Ergotherapeutin Andrea Weirauch, was Maßregelvollzug in dieser Hinsicht bedeutet.
Dauernd unter Beobachtung: Einschränkungen der Privatsphäre im Maßregelvollzug
Ab Tag eins der Unterbringung im Maßregelvollzug gehören Ergotherapeut:innen zu den Fachdisziplinen, die Menschen betreuen und begleiten, die wegen ihrer psychischen Erkrankung straffällig wurden. Die Teilnahme an den angebotenen Therapiemöglichkeiten ist verpflichtend, wenn Patient:innen Lockerungen im Alltag für sich erwirken wollen. Was bedeutet Lockerung? „Lockerungen können beispielsweise sein, dass unsere Patient:innen die wöchentliche Maniküre und Pediküre nicht mehr unter Aufsicht, sondern in ihrem Zimmer vornehmen können“, verdeutlicht die Ergotherapeutin Weirauch, wie einschränkend das Leben im Maßregelvollzug ist und wie sehr darauf geachtet wird, dass es nicht zu selbst- oder fremdschädigendem Verhalten kommen kann. Die Patient:innen können sich Lockerungen durch ihr regelkonformes Verhalten und die konsequente und regelmäßige Teilnahme an den Therapieangeboten, unter anderem zur Deliktbearbeitung, erarbeiten. Welchen Lockerungen dann tatsächlich zugestimmt wird, hängt grundsätzlich vom Therapiestand ab; Lockerungen sind zum Teil mit dem Gericht oder manchmal auch mit der Staatsanwaltschaft abzustimmen. Sämtliche Mitarbeitende haben auch daher ein sehr genaues Auge auf jeden und jede einzelne Patient:in im Maßregelvollzug. Wer sich immer an die getroffenen Absprachen und Regeln hält, sich dadurch als vertrauenswürdig erweist und seinen Willen beweist, für die eigene Zukunft zu arbeiten, erhält im Gegenzug zunächst leichte Lockerungen. Diese verschaffen vor allem etwas mehr Privatsphäre, etwa beim Rasieren mit dem Nassrasierer oder beim Nägel schneiden mit der Nagelschere.
Ergotherapeut:innen sind Teil des multiprofessionellen Teams im Maßregelvollzug
Im Lauf der ersten ein bis zwei Jahre liegt der Fokus der ergotherapeutischen Intervention auf den Grundlagen der Arbeitsfähigkeit der Patient:innen. Es geht dabei ebenso um die sozialen, emotionalen, elementaren und speziellen Fähigkeiten wie um den Bereich des Selbstbildes. Unter diesem letztgenannten Aspekt sind unter anderem das äußere Erscheinungsbild, das eigene Rollenbild und Selbstständigkeit oder auch die reale Selbsteinschätzung zusammengefasst. An der Verbesserung aller Fähigkeiten arbeitet die Ergotherapeutin Andrea Weirauch mit ihren Patient:innen schwerpunktmäßig in Gruppen. Die Patient:innen haben aber auch immer wieder die Chance, Arbeiten oder Projekte alleine zu machen, um ihre besonderen Stärken herauszufinden und weiter auszuprägen. Die Angebote der Ergotherapeut:innen im Maßregelvollzug sind in der LVR-Klinik in Viersen, in der Andrea Weirauch beschäftigt ist, Arbeiten im Garten oder mit Holz, Papier und Pappe. Beim Arbeiten werden weitere Faktoren und Eigenschaften der Patient:innen sichtbar: Wie kommt der beziehungsweise die Einzelne mit anderen zurecht? Klappt Teamwork, wer gibt den Ton an? Wer traut sich etwas zu und wer traut sich zu fragen, wenn etwas unklar ist? Wer von denen, die handwerklich und kognitiv fit sind schafft es, mit anderen, die noch stark von ihren psychischen Problemen absorbiert sind, partnerschaftlich und motivierend zusammenzuarbeiten? Aus ihren Erkenntnissen leitet Andrea Weirauch ihr künftiges ergotherapeutisches Vorgehen ab. Denn ihre Arbeit im Maßregelvollzug besteht nicht etwa darin, die Patient:innnen handwerklich anzuleiten. Der Arbeitsauftrag von Ergotherapeut:innen ist, die Befähigungen der Patient:innen auf allen Ebenen zu verbessern – sowohl als Vorbereitung der Wiedereingliederung in die Gesellschaft und in Freizeitaktivitäten als auch für den (Wieder-)Einstieg in das Berufsleben.
Ergotherapeutische Herangehensweise: Zuhören und auf Frustrationstoleranz achten
Außer diesen langfristigen Zielen haben aktuelle Situationen und Anliegen ebenfalls immer einen Platz in der jeweiligen ergotherapeutischen Einheit. „Wir haben es im Maßregelvollzug mit heterogenen Charakteren und ebenso verschiedenartigen Erkrankungen zu tun; auch verhalten sich manche Patient:innen leider dissozial, können sich also nicht in die Gesellschaft einordnen“, verdeutlicht Andrea Weirauch einen von außen nur erahnbaren Teil des Alltags in der Klinik. Sie fährt fort: „Es entstehen unterschiedliche Dynamiken, manche boykottieren das System – schlussendlich die einzige Möglichkeit, eine eigene Meinung kundzutun“. Das alles ist für sie nachvollziehbar und sie hat immer „ein Ohr“ für ihre Patient:innen, die manchmal aufgewühlt in ihre Therapiestunde kommen und daher nicht in der Lage sind, an ihren grundsätzlichen Zielen zu arbeiten. Die Erfahrung, als Mensch mit seinen ganz persönlichen Bedürfnissen wahrgenommen zu werden, reicht manchmal, um die Gemüter abzukühlen. In jedem Fall trägt diese typisch ergotherapeutische Vorgehensweise dazu bei, das Vertrauen der Patient:innen in ihre Ergotherapeutin weiter zu stärken. Für Andrea Weirauch wiederum sind solche Situationen aber auch Anlass, auf die Gefährlichkeit der Patient:innen, die schließlich aus einem bestimmten Grund im Maßregelvollzug sind, zu schauen. Je nach dem, worum es ging, und ob oder wie sich der- oder diejenige selbst beruhigen konnte, wird die Ergotherapeutin dies in die nächste Interventionseinheit einfließen lassen. In jedem Fall wird sie den Vorfall bei der Übergabe an die folgende Fachdisziplin erwähnen. Transparenz und zeitnahe Information aller ist ein zentrales Element bei der Betreuung von Menschen, die wegen ihrer psychischen Erkrankung straffällig wurden und wichtig, um Verbesserungen des Krankheitsbildes und hoffentlich irgendwann auch die Entlassung herbeizuführen.
Das Fazit der Ergotherapeutin Andrea Weirauch: „Das Potenzial der Menschen im Maßregelvollzug darf nicht ungenutzt bleiben. Wir haben es hier mit zum Teil sehr kreativen Menschen zu tun, mit Menschen, die sich interessieren, die bereit sind, sich zu kümmern und die sich Herausforderungen stellen. Ehrlicherweise muss jeder zugeben, dass der Maßregelvollzug eine wahnsinnige Herausforderung darstellt. Wer das geschafft hat, dem gebührt Achtung und Wertschätzung. Und ein Platz in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt“.
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche
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