Kunst & Kultur

Ältestes Zeugnis von Meister Eckharts Werk entdeckt

Nur zwei schmale Streifen aus Pergament, aber ein sensationeller Fund: An der Universitätsbibliothek Leipzig (UBL) konnten Wissenschaftler:innen Fragmente eines mittelalterlichen Buches identifizieren: Es handelt sich um Reste der ältesten bekannten Handschrift mit einem Text von Meister Eckhart. Geschrieben wurde das Manuskript um 1300 in Thüringen, in derselben Zeit also, als Eckhart am Dominikanerkloster in Erfurt wirkte (1294–1310). Die Fragmente führen damit erstmals in das unmittelbare Umfeld des bedeutenden Theologen und Mystikers, der mit seiner Philosophie bis heute große Wirkung entfaltet. Die Fachwelt kann hier einen besonders verbreiteten und gedanklich provokanten Eckhart-Text, der wohl vom Autor selbst wie auch später vielfach geändert wurde, in einem sehr frühen Stadium der Überlieferung kennenlernen.

„Solche ‚Entdeckungen‘ sind der Wunschtraum von Forscher:innen und Bibliothekar:innen“, meint Dr. Anne Lipp, Direktorin der Universitätsbibliothek Leipzig, „und wie immer sind sie das Resultat von vertiefter Erschließung und wissenschaftlicher Erforschung bereits bekannter Bestände. Dieser Fall reiht sich in eine Serie bedeutender Funde an unserem Handschriftenzentrum ein und macht sehr schön deutlich, wie wissenschaftliches Erkenntnisinteresse und bibliothekarische Grundlagenarbeit produktiv ineinandergreifen.“

Seit 2014 ist durch ein Projekt des Handschriftenzentrums der UBL dokumentiert, dass zwei Pergamentstreifen mit einem theologisch-mystischen Text in deutscher Sprache als Buchbindematerial in einem Band mit einem Druck des 15. Jahrhunderts wiederverwendet waren. Nun konnte der Fund durch Dr. Christoph Mackert, Leiter des Handschriftenzentrums, und sein Team zugeordnet werden: Auf den Pergamentfragmenten sind Ausschnitte aus einem sehr weit verbreiteten Text erhalten, der nach neuesten Erkenntnissen auf Eckhart zurückgeht und unter dem Titel ‚Von zweierlei Wegen‘ bekannt ist. Auf einer ursprünglich zweiten Seite sind Zeilen aus einem bisher nicht näher zu bestimmenden Text über Wissen und Unwissen erkennbar – ein unbekannter Eckhart-Text?

Kein anderes Handschriftenzeugnis rückt so eng an Eckharts Person heran

Das Spektakuläre an dem Neufund ist sein Alter und seine Entstehungsregion: Anhand der Schriftmerkmale lassen sich die Handschriftenreste in die Zeit um 1290 bis 1310 datieren, die dialektale Färbung des geschriebenen Deutsch zeigt, dass das Manuskript in Thüringen geschrieben wurde. Damit sind die Leipziger Fragmente nicht nur der älteste bekannte Textfund zu Meister Eckhart, sondern auch in unmittelbarer Nähe zu seiner Person entstanden. Kein anderes Handschriftenzeugnis rückt so eng an Eckharts Person heran: Von 1294 bis 1310 wirkte Eckhart im Erfurter Dominikanerkloster, zunächst als Prior des Klosters, später als Verantwortlicher für die dominikanische Ordensprovinz Saxonia. 

Bei der Auswertung des Fundes arbeitet das Handschriftenzentrum der UBL intensiv mit der Forschungsstelle „Meister Eckhart“ am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt zusammen, wo auch Dr. Jana Ilnicka mit der Einordnung des Fundes befasst ist, sowie mit dem Präsidenten der Meister-Eckhart-Gesellschaft, Prof. Dr. Freimut Löser von der Universität Augsburg.

Für Prof. Dr. Markus Vinzent, Leiter der Eckhart-Forschungsstelle, sind die Leipziger Bruchstücke „ein ganz aufregender Fall und gerade deshalb so wichtig, weil sie zentrale Partien aus der Eckhart-Predigt enthalten, die in der späteren Überlieferung gestrichen wurden und die nun durch die neuen Fragmente als alt und dem frühen Eckhart zugehörig erwiesen werden.“

Professor Löser hält „ein zeitgleiches Zeugnis zu Eckharts Predigten in Thüringen als Prior in Erfurt oder als Provinzial der Saxonia für ein fulminantes Ergebnis, das uns tiefe Einblicke in seine Erfurter Tätigkeit erlaubt“.

Präsentation auf Fachtagung in der Schweiz

Der Fachwelt wird Dr. Christoph Mackert den Neufund am 14. September im Rahmen der 28. Tagung der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft an der Universität Fribourg (Schweiz) vorstellen können. Über das digitale Präsentationssystem der UBL sind die beiden Fragmentstreifen mit der Signatur Deutsche Fragmente 86a bereits jetzt weltweit online abrufbar: https://digital.ub.uni-leipzig.de/object/viewid/0000051482

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