Eine verrückte Idee, ein tollkühner kubanischer Flugkapitän sowie Märchen aus der Gegenwart – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Eine außergewöhnliche Entscheidung trifft der tollkühne kubanische Flugkapitän Fernando Tortugas in der Wissenschaftlich-fantastische Erzählung „Rekordflug im Jet-Orkan“ von Carlos Rasch. Es geht um eine Rettungsaktion nach einem großen Eisenbahnunglück in Bagdad.
„Neuzugang“ von Dorothea Iser spielt in einem DDR-Jugendwerkhof. Dorthin kommt Jutta Timmendorf nach ihrem Examen als Erzieherin. Sie freut sich auf ihre Aufgabe, endlich mit Jugendlichen zu arbeiten, die in ihrem bisherigen Leben im Abseits standen. Sie will ihnen helfen, wieder Fuß zu fassen. Das bedeutet, ihr Vertrauen zu gewinnen. Zugleich möchte sie von den Kollegen anerkannt und von der Heimleitung geachtet werden. Doch es gibt Schwierigkeiten.
Märchen aus der Gegenwart für kleine und große Kinder erzählt Reinhard Bernhof in „Lockerlangbarts Geheimnis“.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Auch Kinder dürfen erfahren, dass es in unserer Welt leider nicht nur friedlich zugeht, wie schrecklich Kriege sind und dass es nicht nur aus der Perspektive von Kindern nur schwer zu verstehen ist, warum Menschen gegeneinander kämpfen: „Warum musste das alles passieren?, fragte Slovi. – Die Menschen sind so. Oftmals verrückt, sagte die Mutter. Sie werden aufgehetzt. Irgendjemand organisiert ihnen Waffen. Plötzlich besitzen sie ein Gewehr, eine Handgranate, einen Jeep. Manche haben sich sogar Uniformen besorgt; andere kämpfen im Schlabber-T-Shirt. Und der liebe Gott sieht zu. So ist das immer, wenn Krieg ist. Und die Händler, die Waffen organisieren, freuen sich über den Reibach, den sie gemacht haben.
Ich aber habe immer Lust zu leben, sagte Slovi, nicht um zu kämpfen, um zu sterben. Leben, mehr noch, mehr noch. Schließlich ist doch wichtig, dass man lebt?“
Erstmals 2006 veröffentlichte Reinhard Bernhof im Plöttner Verlag Leipzig „Augenblicke der Kinder. Erzählungen für Kinder“: 16 Erzählungen für Kinder ab 10 Jahren sehen die Welt mit Kinderaugen, humorvoll, zum Nachdenken und Träumen, die Natur beobachtend.
Die Geschichten machen deutlich, wie man die Welt sehen kann, wenn man noch unbefangen ist, wenn man noch Träume hat und an sie glaubt.
Kinder haben weniger Erfahrung als Erwachsene, aber ihre Gefühlswelt, ihre Gedankenwelt, ihre Fantasiewelt ist größer.
Kinder erfreuen sich der Gegenwart, sie nehmen die kleinen Dinge, Begegnungen und Entdeckungen deutlicher wahr. Kinder erfreuen sich an Kleinigkeiten, ob es nun ein Ast, eine Muschel, ein Möwennest oder ein Fisch ist – es macht sie glücklich. Erwachsene könnten sich durch genau diese Wahrnehmungen der kleinen Freuden ihren Alltag wesentlich verschönern. Eine der 16 Erzählungen aber handelt auch vom Krieg im Kosovo und von den Träumen und Wünschen des kleinen Slovi, dessen Vater und Onkel getötet wurden und der eine Weide pflanzt – als Zeichen der Hoffnung und des Friedens. Auch ein Traum …
Lesen Sie über Cosima in einer deutschen Schule, die anders aussieht, weil ihr Vater aus Ghana ist:
Olafs Halbschwester heißt Cosima. Er ist stolz auf sie, denn sie hat eine milchkaffeefarbene Haut und rabenschwarzes Haar, das sich an den Zopfenden kräuselt. Olaf dagegen ist blass, seine Haare sind blond und kurz geschnitten, sodass er von seinen Klassenkameraden Mecki gerufen wird. Sie sind umgezogen und gehen erst seit wenigen Tagen in die neue Schule, Olaf ist in der 2 B, Cosima in der 3 A.
Olaf wundert sich, dass seine Schwester immer allein am Zaun steht, während die anderen aus ihrer Klasse lustig herumfliegen wie Schwalben. Spielt denn keiner mit dir?, fragt er Cosima.
Ach, die anderen sind doof, antwortet sie.
Aber sofort hat Olaf Cosimas Antwort vergessen, denn Sven tritt dazwischen – und der redet nur von Fußball und von den Messerstichen, die im Fernsehen eine Frau töteten. Er ahmt ihre Schreie und Verkrümmungen nach …
Am nächsten Tag sieht Olaf seine Schwester erneut am Zaun stehen, wieder ganz in sich versunken.
Was hast du bloß?
Er will sie vom Zaun wegziehen, aber sie wehrt ab.
Nach einer Weile sagt sie zögernd: Es ist wegen dir. Du bist weiß – und die Kinder sagen, dass wir gar keine richtigen Geschwister sind. Dann wollen sie wissen, warum das so ist.
Olaf weiß nicht so recht, was er antworten soll.
Nach der Schule gehen Olaf und Cosima gemeinsam nach Hause. Gegen Nachmittag kommt ihre Mutter ebenfalls aus der Schule, aus einer anderen, denn sie ist Lehrerin für Englisch und Französisch. Sofort belagern sie die Mutter. Mutti, die Kinder möchten wissen, warum Cosima eine dunkle Hautfarbe hat und ich dagegen eine weiße?, sagt Olaf ganz aufgeregt.
Ich habe es doch Cosima schon erklärt, sagt die Mutter. Sag ihnen, dass Cosimas Vater Afrikaner ist. Er ist wieder in Ghana, weil ihn sein Land braucht. Und nun haben wir unseren Vater, Dirk.
Siehst du, weil dein Vater aus Ghana ist, sagt Olaf zu Cosima.
So ist es, sagt die Mutter und streichelt Cosima. Und weil es heute draußen so schön ist, gehen wir gemeinsam noch wohin.
Ich weiß, wir gehen in die Eisdiele, stimmts?, fragt Olaf.
Verrate ich nicht, sagt die Mutter.
Kurz vor der Eisdiele bleibt die Mutter vor einem Blumengeschäft stehen.
Schaut nur mal, Kinder, hier gibt es aber schöne Blumen.
Im Schaufenster stehen mehrere große Vasen, gefüllt mit prachtvollen Dahlien.
Sie betreten den Laden. Die Mutter kauft einen schönen Dahlienstrauß aus genau denselben gelben Blumen und einen zweiten in verschiedenen Farben: vom tiefsten Dunkelrot bis zum wundervollen Hellrosa, vom leuchtenden Ocker bis zum zartesten Weiß. Warum kaufen wir bloß so viele Blumen?, fragen die Kinder. Oma hat nicht Geburtstag und Dirk, unser Vater, auch nicht.
Abwarten, sagt die Mutter. Und jetzt gehen wir in die Eisdiele.
Erstmals 1981 erschien als Band 146 der bekannten und beliebten Reihe der Kleinen Trompeterbücher des DDR-Kinderbuchverlags „Der vertauschte Vati“ von Manfred Richter. Vater Bredemeier hat wohl recht, wenn er meint: „Es ist gut, dass wir uns einmal verändert haben, verändern macht schlau." Der Rollentausch zwischen Vater und Sohn — mit Spaß erzählt — bringt für beide eine wichtige Erkenntnis: Man muss aufeinander Rücksicht nehmen, egal, ob man groß oder klein ist. – Eine merkwürdige Geschichte ist auch die von der stummen Gitarre, die den faulen Bolle Ohlebomm lehrt, sich auf seine eigentliche Aufgabe zu besinnen. Voll hintergründigem Humor erzählt sie von einem Künstler, der über dem Wohlleben vergisst, den Menschen Freude zu bringen.
So fühlt sich der Rollentausch an:
Und der richtige Vati Bredemeier?
An diesem Freitag früh lag Vati Bredemeier lange im Bett. Schlafen konnte er leider nicht mehr, weil er an das zeitige Aufstehen gewöhnt war. Aber er aalte sich, das war auch schön. Später zog er Bennis kurze Hose an, warf sich den Ranzen auf den Rücken und rannte zur Schule.
Sein Sohn hatte dieses Tempo immer durchgehalten. Aber man muss es lange üben. Vati Bredemeier hing schon auf halbem Weg die Zunge heraus. Er verbummelte die Zeit. Oberlehrer Sengpiel diktierte bereits die komplizierte Nachschrift, als Vati Bredemeier die Tür zum Klassenzimmer öffnete.
Die Köpfe der Kinder fuhren hoch. Alle starrten den Zuspätkommenden an, auch Oberlehrer Sengpiel.
Den großen Tausch bemerkte allerdings niemand. Vielleicht, weil in Gedanken jeder mit dem Diktat beschäftigt war? Aber es ist auch möglich, dass es an Bennis kurzer Hose und an dem Ranzen auf Vatis Rücken lag. Wer weiß das? Jedenfalls sagte Vati Bredemeier laut und deutlich: „Moj’n, Leute, lasst euch mal nicht stören, flott, flott!"
Er setzte sich auf Bennis Platz und wunderte sich, weshalb die Jungen und Mädchen kicherten. Nur Oberlehrer Sengpiel kicherte nicht. Er saß mit offenem Mund hinter seinem Tisch und staunte über diesen vorlauten Schüler.
Zum Glück fiel Vati Bredemeier ein, dass er ja nicht mehr Vati Bredemeier war, der sich im Betrieb nie ordentlich entschuldigt, wenn er einmal zu spät kommt. Er war jetzt ein Kind, und von Kindern verlangt man Höflichkeit. Er blinzelte erschrocken, stand schnell auf und entschuldigte sich, wie es sich gehört. Er sagte: „Bitte, entschuldigen Sie. Ich konnte nicht so rennen. Das kommt wahrscheinlich von der Raucherei."
„Wie bitte?", fragte Oberlehrer Sengpiel entsetzt.
„Ach so", Vati Bredemeier kratzte sich am Kopf. „Ich meine, also, mit der Raucherei meine ich, mein Vati raucht so viel, sagt meine Mutti. Davon hat sogar schon unser Wellensittich einen Husten."
Oberlehrer Sengpiel guckte sehr misstrauisch. Aber er wollte nicht, dass der Unterricht gestört wird. Deshalb sagte er: „Setz dich. Hol dein Heft heraus!"
Da war noch einmal alles gut gegangen. Vati Bredemeier zog das Schreibheft aus dem Ranzen und beteiligte sich am Diktat. Nach einer Viertelstunde begannen seine Finger zu schmerzen. Ich bin das Schreiben nicht mehr gewohnt, dachte er. Und dann überlegte er, ob nämlich mit ,h‘ oder ohne geschrieben wird. Ehrlich gesagt, Vati Bredemeier schielte sogar zum Nachbarn. Aber er durfte nicht abschreiben, weil das ein Übel ist.
Endlich klingelte es zur Pause. Die Hefte wurden eingesammelt. Vati Bredemeier sprang mit den anderen Kindern die Treppe hinab in den Hof. Die Stillsitzerei hatte er schon ein bisschen satt.
Er brüllte und tobte und ließ sich gleich in einen ordentlichen Ringkampf verwickeln. Das tat gut, weil er heute seine Muskeln überhaupt noch nicht gebraucht hatte. Plötzlich packte ihn jemand am Kragen. Es war Herr Sengpiel.
Vati Bredemeier ist durch seine Arbeit in der Gießerei ziemlich kräftig. Er hätte sogar Oberlehrer Sengpiel verwamsen können. Aber weil er jetzt Benni war, musste er den Kopf hängen lassen und so tun, als würde er sich schämen. Das war nicht einfach. Er seufzte, und Herr Sengpiel meinte: „Was ist bloß heute mit dir los, Benni?"
Die Wissenschaftlich-fantastische Erzählung „Rekordflug im Jet-Orkan“ von Carlos Rasch erschien 1968 als Heft 292 der Reihe „Das neue Abenteuer“ des Verlags Neues Leben Berlin. Der kubanische Flugkapitän Fernando Tortugas fliegt mit dem veralteten sowjetischen TU-62-M-Transporter von Havanna nach Paris. An Bord befindet sich Professor Benito Cavallo, der als weltbekannter Spezialist für Organverpflanzungen auf dem Pariser Kongress für Chirurgie und Transplantation beweisen will, dass ein lebendes Herz und weitere Transplantationsorgane unbeschadet den transatlantischen Lufttransport überstehen.
Als die Meldung von einem großen Eisenbahnunglück in Bagdad kommt, wo Professor Cavallo und die lebenden Organe dringend benötigt werden, verspricht ihm der Flugkapitän, ihn ohne Zwischenstopp in Paris innerhalb von 8 Stunden nach Bagdad zu bringen und das ohne zusätzlichen Treibstoff.
Der tollkühne Tortugas will in seinem, nicht für Überschallflug eingerichteten Flieger im Jet-Strom des Tornados Dorit diesen Geschwindigkeitsvorteil nutzen. Aber wird der Treibstoff reichen?
So liest sich die spannende Geschichte:
Er hatte die Entscheidung immer hinausgeschoben und alle Hoffnungen auf günstigere Umstände gesetzt. Die waren aber nicht eingetreten. Wenn man im Jetstream hätte bleiben können, wäre die SENORA notfalls noch ein paar Kilometer weitergeflogen, zum Beispiel bis nach Teheran. Aber ein Aufschub oder ein „Wenn“ waren eben nie eine Lösung.
James Prat wusste, dass nun der Augenblick gekommen war, von dem an er Fernando Tortugas nicht mehr in seinem guten Glauben lassen durfte und Meldung machen musste. Er sprang auf und eilte zur Kanzel. Dort hatte eben der Professor den Kommandanten aufgesucht und seine Frage gestellt. James Prat hörte sie.
„Wir schaffen es nicht — Minusbilanz!“, rief er dem Kommandanten zu und schwenkte seine Berechnungen und die letzten Jet-Meldungen.
Fernando Tortugas runzelte die Brauen. „Moment“, sagte er zum Professor. „Bis jetzt ist alles großartig gelaufen, aber nun scheint sich die Situation geändert zu haben.“
Während James Prat wieder das Steuer übernahm, um dem Kommandanten Gelegenheit zu geben, selbst alle Angaben zu prüfen, lehnte Benito Cavallo an der Rückenwand der Kanzel und knetete seine Hände.
„Seit wann ist die Abgastemperatur zu niedrig?“, erkundigte sich der Kommandant.
„Seit den Azoren“, gestand James Prat.
Tortugas pfiff vielsagend durch die Zähne, murmelte dann aber nur: „Alter Halunke“, und vertiefte sich wieder in die Jet-Meldungen. Ihm war klar geworden, dass der sich anbahnende Misserfolg nicht so sehr seine Ursache in der Abgastemperatur, sondern im Verlauf des Jet-Bandes beziehungsweise im Zusammenwirken beider Faktoren hatte. Er nahm es James Prat nicht übel, so haarscharf kalkuliert und insgeheim immer mit einer kleinen Zugabe von einigen Hundert Litern gerechnet zu haben.
Doch nun war guter Rat teuer. Wie es aussah, konnte Fernando Tortugas sein Versprechen nicht halten. Zur Überraschung seines Kopiloten sagte er aber: „Senor Cavallo! Mein Ehrenwort gilt noch immer. Der Jetstream hat uns zwar einen kleinen Streich gespielt. Sie werden jedoch trotzdem zur festgesetzten Zeit am Ziel sein — allerdings ohne uns“, fügte er hinzu. Dann erklärte er, was er zu tun gedachte. Es war die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb. Fernando Tortugas hatte sie von Anfang an als seinen letzten Ausweg mit einkalkuliert. Es war ein Wagnis und so ungewöhnlich wie dieser ganze Flug. Für alle Betroffenen, die sich nun einschalten mussten, blieb genug Zeit, Vorbereitungen zu treffen. Noch flog man über dem Meer.
„Senor Tortugas! Ich empfehle Ihnen, sich nach der Landung sofort vierundzwanzig Stunden aufs Ohr zu legen!“, rief der Professor voller Anerkennung und in einer Art kameradschaftlicher Fürsorge. „Wenn ich mich um Sie kümmern könnte, würde ich veranlassen, dass Sie mit einer Ambulanz sofort ins nächste Sanatorium transportiert werden, damit Sie ungestört neue Kräfte sammeln können.“
„Neuzugang“ von Dorothea Iser erschien erstmals 1985 beim Verlag Neues Leben Berlin. Jutta Timmendorf kommt nach dem Examen als Erzieherin in einen Jugendwerkhof. Sie freut sich auf ihre Aufgabe, endlich mit Jugendlichen zu arbeiten, die in ihrem bisherigen Leben im Abseits standen. Sie will ihnen helfen, wieder Fuß zu fassen. Das bedeutet, ihr Vertrauen zu gewinnen.
Von den Kollegen möchte sie anerkannt werden und von der Heimleitung geachtet. Das funktioniert nicht.
Wie alle Absolventen muss sie erst lernen, eigene Akzente zu setzen. Sie begegnet der Jugendlichen Wietha, die gegen ihren Willen in den Jugendwerkhof eingewiesen wird. In ihrer Akte steht, das Mädchen hat sich wochenlang herumgetrieben, die Schule gebummelt und ist sexuell verwahrlost. Wietha wünscht sich nur eins. Raus aus den Zwängen der Heimerziehung. Auch Jutta Timmendorf wird reglementiert. Sie beginnt, um sich und um Wietha zu kämpfen.
Lesen Sie über Wietha:
Die Sonne brennt immer noch herunter. Da hört sie ein Geräusch, das zu einem Dröhnen wird. Sie arbeitet sich dem Rand zu, verharrt, schließt die Augen. Das Dröhnen schwillt an, droht sie zu verschlingen. Ein Beben setzt ein. Sie öffnet die Augen. Über sich sieht sie ein großes Maul. Es schwebt zu ihr herunter, greift Schotter, hebt sich wieder, schwenkt ab. Verzweifelt versucht sie sich herauszuarbeiten, aber da kommt es schon zurück. Senken, greifen, schweben, drehen. Kein Entkommen. Sie wird von herunterrieselndem Kies getroffen. Noch einmal versucht sie, zu entkommen, erreicht den Rand, schreit, reißt die Arme hoch, bevor sie wieder heruntergerissen wird. Diese Sonnenfarben, Wietha, fürchte dich nicht. Sie lächelt dem Regenfisch entgegen. Sie spürt keinen Schlag, keinen Schmerz. Männergesichter, Hände, Arme. Sie kann sehen und hören und fühlen und schmecken. Ein Mann hält einen anderen zurück, der wütend auf sie loswill, das sieht sie. "Wenn sie lebensmüde ist, soll sie sich einen Strick nehmen", das hört sie. Sie wird in eine Fahrerkabine geschoben, und sie weiß, was folgt. Mutter wird sie wieder einmal vom Revier abholen müssen. Sie wird sich für die Tochter entschuldigen. Aber diesmal irrt sich Wietha. Es ist Axel, der sie abholt, und zwar vom Betriebsarzt. Er spricht auf dem langen Weg nach Hause nicht mit ihr. Er wird sie bestrafen. Sie soll selbst sagen, wie. Sie reicht ihm den Lederriemen. Ja, sie ist undankbar. Er verlangt, sie soll das zugeben, und schlägt sie. Nach wenigen Schlägen wirft er sie auf die Liege und reißt ihr die Sachen vom Leib. Es geht bei ihm schnell vorbei, wie immer, wenn er sie vorher schlägt.
Das Buch „Lockerlangbarts Geheimnis“ von Reinhard Bernhof erschien 2004 im projekte verlag, Halle.
Der Autor versucht, in seinen Märchen für kleine und große Kinder Lebenssinn und eine Ethik des Miteinanders zu vermitteln.
Jeder Mensch, besonders der kleine, ist eine Persönlichkeit, auf die man nicht herabblicken darf, sondern ein reifender Mensch, der langsam erschaffen wird.
Die Märchen beschreiben die Wunder der Natur, die Freundschaft mit Tieren und die Beziehung der Kinder zu Menschen, die anders sind, und deshalb ganz besonders das Verständnis der Kinder suchen.
Überzeugen Sie sich selbst:
Die Container-Alte und das Gewissen
Sie wusste nicht, wohin sie heute gehen sollte. Aber sie ging. Wohin sie nur gehen mag? fragte sich der weiße Spitz neben ihr an der Leine. Doch dann brauchte er nicht mehr lange zu überlegen, denn sie ging zum Gerümpelcontainer.
Auf dem Weg dahin radelte Schabrowsky vorbei, er grüßte. Den kenne ich schon lange nicht mehr, sagte sie zum Spitz und spuckte aus als Kriegserklärung. Schabrowsky hatte ihr einmal aus dem Container ein fast neues Dampfbügeleisen vor der Nase weggeschnappt. Bei diesem Gedanken übersah sie die feuchten Blätter auf dem Bürgersteig und rutschte aus. Der Spitz aber hatte die Situation erfasst und zog stramm an der Leine, so dass sich die Alte vor dem drohenden Sturz abfangen konnte.
Ein Glück, dass ich dich habe, Walter, sagte sie zum schlauen Spitz. Was mögen wir heute wieder finden? Hoffentlich so viel, dass es für eine Flasche Weinbrandverschnitt reicht.
Sie legte noch einen Schritt zu, und Walter, der ja nur Mini-Füße hatte, vier, fünf.
An der Ecke, wo der Container stand, war es leer, das heißt, es waren keine Leute da, die etwas suchten oder Dosenbier tranken. Da steht uns wenigstens keiner im Weg, sagte die Alte. Aber da sah sie doch einen krummen Rücken in der Blechkiste, sie erkannte Schabrowsky. Mist, dass er meistens den Container ansteuert, mir immer zuvorkommt, fluchte sie.
Der Spitz sprang auf den vielen prall gefüllten Plastesäcken herum, die davor standen, und wühlte darin mit der Schnauze. Findest auch nichts, sagte sie zu Walter. Sie prüfte eine fleckige Aktentasche, sie war mit alten Zeitungen ausgestopft. Nix drin. Rein gar nix.
Schabrowsky, der sich plötzlich aus dem Container beugte, rief: Erna, gibt es dich noch!
Und ob es mich gibt, sagte sie zischelnd und gereizt, aber sie würdigte ihn keines Blickes.
Walter kläffte, als ein Mann vom Fahrrad stieg, seinen Boxer an der Leine mit mürrischer, geifriger Schnauze, der grimmig wirken wollte, aber in Wirklichkeit gutmütig war, denn er schnüffelte am Spitz herum, dem es gefiel und mit dem Bellen sofort aufhörte.
Du wohnst in der Jordanstraße, stimmts? fragte der Hinzugekommene die Alte.
Sie sah ihn verdutzt an.
Ich kenne dich schon, seitdem du aus der Schule bist. Habe dich immer wieder mal gesehen, aber nie von der Nähe, sagte der Mann.
Nichts versäumt, knurrte die Alte. Zuckte die Schultern. Bist du Kapitulsky-Rudi, vom Turnverein?
Na wer wohl sonst.
Hast dich wacker gehalten.
Und ob. Bin noch immer bei den Turnern. Von wegen Bauch und Krampfadern. Flexibel muss der Mensch sein.
Schabrowsky kroch aus der Kiste und rief zu dem Mann: Verzieh dich! Das ist mein Revier!
Will dir nicht ins Handwerk fuschen, rief Kapitulsky-Rudi. Wollte nur die Bücherkiste loswerden. – Und schwupp, war er wieder auf dem Fahrrad.
Den kennste wohl, Erna? fragte Schabrowsky.
Der war damals sogar Vorturner im Verein. Rudi kennt doch jeder.
Ein Roter, sagte Schabrowsky.
Komm mir nicht so, sagte die Alte. Leute mit Farben zu vergleichen. Ob rot oder grün, blau oder schwarz. Die Hauptsache, es sind Menschen.
Und wer sind die Blauen? fragte Schabrowsky.
Na diese Adeligen, die mit dem blauen Blut, das noch keiner gesehen hat, die wieder einen Kaiser haben wollen. Die Zeitungen, die Sender sind doch voll von Adelsgetrief.
Das stimmt, sagte Schabrowsky. – Aber Politik ist für mich gegessen. – Fand neulich ein Foto von dir im Container. Warst mal eine verdammt hübsche Frau.
Hab ein paar Schubladen aufgeräumt. Altes Zeug nur, sagte sie. Zum Verlieben. So gut hast du mal ausgesehen, sagte er.
Äh, hör auf. So ’n Käs, schimpfte sie. Wir werden alle mal älter. Mal früher, mal später. – An deinem Gebiss haschen ja schon die Fliegen.
Nee, ehrlich. Sahst verdammt gut aus, wiederholte Schabrowsky. Er fasste in die Jacke, zog ein postkartengroßes Foto heraus. – Hier, kennste die!
Hast dich wohl damit belastet, sagte die Alte.
Willst du es zurück haben?
Kannste behalten. Wenn du damit glücklich bist, sagte die Alte. Danke, sagte Schabrowsky. Ich trage es immer bei mir. Es gefällt mir. Geht mir durch die Wirbel.
Durch die Wirbel! Da lacht ja der ganze Hühnerhof! rief die Alte.
Walter zerrte an der Leine. Bleib ruhig, Walter, sagte sie. Werde nicht gleich eifersüchtig, wenn ich Herrenbekanntschaft mache. – Aber Walter zerrte immer heftiger, bellte Schabrowsky an und zog Leine.
Abends im Bett wartete die Alte auf den Schlaf, der nicht kommen wollte. Nie ist er pünktlich, dachte sie. Stand noch einmal auf und blickte zu Walter, der sie von der Ofenecke mit einem Auge ansah. Sie wusste nicht, ob sie fluchen oder lieber die Sterne zählen sollte. Aber sie wusste, dass sie beim Fluchen immer aufgeregter werden würde und dann überhaupt nicht mehr einschlafen konnte. Da hilft nur ein Weinbrandverschnitt. – Walter hingegen fühlte sich wohl in der Ofenecke, die jetzt seine war, als wäre sie geheizt und draußen Winter.
Erinnern wir uns zum Schluss der heutigen Post aus Pinnow einen kurzen, aber wichtigen Augenblick daran, dass der Erscheinungstag dieses Newsletters, der 1. September, in Deutschland, vor allem aber in der früheren DDR als Weltfriedenstag begangen wurde – ein Tag, an dem darüber nachgedacht wurde, wie Frieden bewahrt und fabriziert werden kann und auf welche Weise der Krieg aus der Menschheitsgeschichte vertrieben werden kann. Es war aber auch ein Tag zum Nachdenken und Erklären der tieferen Ursachen von Kriegen, wobei klar ist, dass man sich gleichzeitig über mehrere Krisen und Konflikte Gedanken machen muss – über soziale Konflikte, über ökologische Konflikte und eben über militärische Konflikte. Das alles ist nicht einfach, aber nur zusammengedacht sind dauerhafte Lösungen denkbar. Auch insofern ist der 1. September, dieser Weltfriedenstag, eine gute Gelegenheit, an dieses Erbe der DDR zu erinnern und erneut (und immer wieder) zum Nachdenken über Krieg und Frieden anzuregen. Gewissermaßen ist so gesehen jeder Tag ein Weltfriedenstag …
Viel Vergnügen beim Lesen sowie Behutsamkeit und Beharrlichkeit beim Nachdenken über Krieg und Frieden, einen schönen Restsommer, bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
In der nächsten Woche steht auch wieder ein Buch aus der berühmten Nikolai-Bachnow-Reihe von Aljonna und Klaus Möckel im Angebot, und zwar Band 6 „Die unsichtbaren Fürsten“: Im Zauberland, ja in der Smaragdenstadt selbst, geschieht Ungeheuerliches. Läden werden am helllichten Tag ausgeraubt, ganze Viehherden weggetrieben, und das Gespenstischste ist, dass man die Räuber nicht oder bestenfalls als grünliche Schatten sehen kann. Kann irgendjemand etwas unternehmen?
EDITION digital war vor 28 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.300 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.
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