Buchrezension: Vaclav Smil: Wie die Welt wirklich funktioniert. Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit
Verlag C.H. Beck, München; 2023
392 Seiten
Gebundene Ausgabe: 28,00 €
Kindle: 21,99 €
ISBN-10: 3406800556
ISBN-13: 978-3406800559
Unsere Welt besteht aus Zement, Stahl, Ammoniak und Plastik – zumindest in ihrem zivilisatorischen Fundament. Ohne dieses Fundament würden keine Datenströme fließen und der Charme der Künstlichen Intelligenz (KI) wäre nutzlos. Mit dieser These versetzt der renommierte tschechisch-kanadische Wissenschaftler und Energieexperte Vaclav Smil der Hoffnung auf eine schnelle Energiewende einen herben Dämpfer. Mit nüchterner Attitüde trägt der emeritierte Professor detaillierte Fakten zum Thema zusammen, die, mit Zahlen untermauert, erst einmal wirken. Punkt. Und bei diesem Punkt bleibt Smil dann auch stehen.
„Die schiere Massivität und technische Eingewurzeltheit kohlenstoffabhängiger Prozesse und Aktivitäten machen es zu einem Ding der Unmöglichkeit“ (S. 272), schnelle globale Dekarbonisierung zu erwarten. Unser System bewegt momentan mehr als zehn Milliarden Tonnen fossilen Kohlenstoff und leistet eine Energieumwandlung von mehr als 17 Terawatt (S. 273). Smil etikettiert das Träumen von technischen Superlösungen, die dem Menschen versprechen, ihren komfortablen Lebensstil unter gleichen Bedingungen beibehalten zu können, als Wunschdenken. Grüne Hymnen auf ein „globales Nirwana“ zu singen und dabei ausschließlich auf erneuerbare Energien zu setzen, hält der Energieexperte für bestenfalls naiv.
Zum Inhalt
Das Buch besteht aus sieben Kapiteln und ist mit Register fast 400 Seiten stark. Eine Einleitung, ein Anhang mit ausführlichen Anmerkungen und ein Register zeugen von gründlicher Recherchearbeit. Smil geht von einem Verständnisdefizit des modernen Menschen in Sachen Energie aus, das schon fast als Ignoranz bezeichnet werden kann. Verstädterung und Mechanisierung seien schuld daran, dass bei vielen Menschen heute die unbewusste Mischung von Realität und Fiktion zu „kultischen visionären Ausgeburten“ führt und dass „das Mantra grüner Lösungen“ völlig losgelöst vom Faktischen gebetet wird. Deswegen möchte das Buch den Laien informieren: über die Nahrungsmittelproduktion, die fossilen Grundlagen, die Globalisierung, die Risiken, die Umwelt und die Zukunft.
Die Nutzung fossiler Energieträger bildet die energetische Grundlage der modernen Zivilisation. Für den Laien ist es erschreckend klar: Ohne die Nutzung fossiler Energieträger ist der heutige Lebensstil der entwickelten Welt nicht aufrecht zu erhalten. Hinzu kommt, dass der Rest der Welt einen enormen Nachholbedarf an Wohlstandskonsum hat. Müssten wir die Forderung nach einer radikalen Dekarbonisierung umsetzen, würden wir sofort auf den Entwicklungsstand von etwa 1880 zurückfallen, als noch 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiteten und man sich mit Pferdekutschen fortbewegte. Der wirtschaftliche Schock wäre nicht zu verkraften. Hinzu käme das weitere Bevölkerungswachstum, das noch mehr Energie verbrauchen würde.
Die Rettung der Welt wäre möglich durch ein Zusammenwirken von kontinuierlichen Effizienzsteigerungen, besser konzipierten Systemen und maßvollem Konsumverhalten (S. 276). Aber machen wir uns nichts vor: Wirksame Maßnahmen gegen Emissionen sind teuer, langfristig und würden erst mit einer Verzögerung von Jahren wirken. Dazu bescheinigt Smil uns eine „zuverlässige Vorliebe dafür, dem Motto „nach uns die Sintflut“ zu frönen. Wir messen dem jetzt einen höheren Wert zu als dem Später… So rückt der virtuelle Zeitpunkt der angestrebten Wende… immer weiter in die Zukunft“ (S. 310).
Der Autor ist sich nicht sicher, ob wir dem Anspruch der optimalen Zukunftsgestaltung dieser Welt im Hinblick auf die Energienutzung künftig gerecht werden oder nicht. Doch „mit solchen fundamentalen Ungewissheiten leben [zu] müssen, bleibt eine der Wesenheiten des Menschseins“ (S. 316). So versuchen wir uns weltpolitisch immer wieder mit kleinteiligen Vereinbarungen zu trösten und feiern lokale Ansätze als globale Weltrettung, während China weiterhin klammheimlich und illegal mitten im Wald unter katastrophalen Bedingungen die schweren Seltenen Erden abbaut, die alle Welt so dringend für ihre Windräder und Elektroautos braucht. Tatsache ist: Es gibt derzeit keine verbindlichen Selbstverpflichtungen der Weltgemeinschaft zur globalen Dekarbonisierung (S. 311).
Zum Punkt
Das vorliegende Buch ist „die Summe meiner Lebensarbeit… und leidenschaftliches Plädoyer dafür, extreme Anschauungen hinter sich zu lassen“ (S.20). Es ist durchaus interdisziplinär zu verstehen. Dazu stützt sich der Experte auf jahrzehntelange eigene Forschung zum Thema und auf Grundlagenforschung anderer Wissenschaftler. So wimmelt es in den Seiten von Zahlen, ohne die sich die Welt der Energie nicht verstehen lässt. Dieser Umstand macht im Anhang ein Exkurs zu Größenordnungen nötig. Smil ist bei der Darstellung der Fakten weder optimistisch noch pessimistisch, sondern nüchtern und sachlich. Er wirbt für ein Augenmaß, das jedoch ohne Gewissheiten in die Zukunft blicken muss.
Die Probleme sind vielfältig: Abholzung der Tropenwälder, Verlust der Artenvielfalt, fortschreitende Bodenerosion und globale Erwärmung. Das Problem der Treibhausgasemissionen ist bekannt, aber noch nicht gebannt. Tatsächlich werden wir nicht ohne Opfer aus dieser Situation herauskommen, die Frage ist nur, wer wird sie bringen – wir oder die kommenden Generationen? Smil macht tatsächlich einen Punkt, aus dem die Politik auch mit viel Gerede und ehrgeizigen Programmen kein Komma machen kann. Bei so vielen überzeugenden Zahlen fällt es tatsächlich schwer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Auch wird man nach der Lektüre etwas leiser die „grüne Hymne der Erneuerbaren“ als Ausweg aus der Klimakrise singen.
Das Buch ist trotz seiner Komplexität und Vielschichtigkeit auch für Laien gut verständlich. Es liest sich wie ein realer Krimi, in dem heute lebende Menschen mitspielen und dessen Ausgang offen ist. Wieder einmal geht die Welt, wie wir sie kennen, unter. Die Rettung ist derzeit nur schemenhaft zu erkennen. Klar ist nur, dass wir ein technisches Innovationswunder brauchen, um auch in Zukunft so viel Energie zu erzeugen, wie wir brauchen, ohne unseren Planeten zu ersticken. Bisher ist es der Menschheit immer wieder gelungen, sich neu zu erfinden und weiter zu wachsen. Solange uns diese dringend notwendige Erfindung nicht gelingt, werden wir weiter am Abgrund tanzen. Nur sind wir nicht mehr naiv und unaufgeklärt, sondern dank Smil gut informiert.
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