Tag gegen häusliche Gewalt (25.11.2023): „Viele wünschen sich im Nachhinein, es hätte jemand gefragt“
Wir haben durch Interviews mit den in der Medizin Beschäftigten festgestellt, dass bei ihnen oft nicht ausreichend Kenntnisse zu möglichen Hinweisen für häusliche Gewalt vorhanden sind. Das führt zu Unsicherheit und man traut sich in der Folge oft nicht, nach Misshandlungen zuhause zu fragen. Ziel unseres europaweiten Projekts VIPROM ist es, die Lehrpläne für den medizinischen Sektor so zu erweitern, dass die Beschäftigten sicher sind, Patientinnen und Patienten nach häuslicher Gewalt zu fragen. Das geht im arbeitsverdichteten Alltag oft unter, dass man einen Verdacht anspricht, auch weil es für beide Seiten mit Scham oder auch Hilflosigkeit behaftet sein kann.
Worauf müssen Beschäftigte des Medizinsektors bei einem Anfangsverdacht von häuslicher Gewalt denn konkret achten?
Dazu müsst man zunächst einmal wissen, welche Formen und Hinweise von häuslicher Gewalt es gibt. Da geht es zum Beispiel um die typischen Verletzungsmuster, aber auch um auffälliges Verhalten. Und dann, wenn ich dieses Wissen habe, muss ich genau hinsehen. In der Gynäkologie und Geburtshilfe sehen wir andere Hinweise als in der chirurgischen Notaufnahme. Wenn man die roten Flaggen bei der Anamnese oder Behandlung erkennt, ist schon viel gewonnen – dann muss man sich nur noch zu fragen trauen.
In welchen medizinischen Disziplinen werden denn potentielle betroffene von häuslicher Gewalt zuerst vorstellig?
Es gibt natürlich „Hot-Spots“ wie die Notaufnahme, wo körperliche Verletzungen durch Misshandlungen zuerst eintreffen. Außerdem die Geburtshilfe, denn es ist bekannt, dass Gewalt im häuslichen Umfeld in vielen Fällen durch eine Schwangerschaft entweder erstmals ausgelöst wird oder bestehende Gewalt eskaliert. Es gibt also bestimmte Risikosituationen für Frauen. Aber auch Männer können von häuslicher Gewalt betroffen sein. Wenn Kinder Gewalt erleiden, kommen diese mit Verletzungen in die pädiatrische Notaufnahme. Da ist der Blick auf die typischen Verletzungsmuster glücklicherweise im Sinne des Kinderschutzes schon länger geschärft. Aber auch Depressionen als Folge der Gewalt können auftreten; seelische Verletzungen können so schlimm wie körperliche sein. Letzten Endes sehen wir in der Medizin Betroffene in jeder Fachdisziplin.
Was sind besondere Verdachtsmomente, wenn sich eine Patientin oder ein Patient mit auffälligen Verletzungen in der Klinik vorstellt?
Ein wichtiges Verdachtsmoment ist, wenn das Verletzungsmuster offensichtlich nicht zu dem passt, was der oder die Betroffene zur Entstehung der Verletzungen erzählt. Auch eine wichtige Beobachtung ist es, wenn eine Begleitperson mit in die Klinik kommt und dann dort für die Patientin oder den Patienten antwortet. Wenn diese nicht gerade bewusstlos sind, dann ist das eine absolut rote Flagge – da sollte man sehr hellhörig werden.
Wie könnte eine gute Reaktion auf solch ein Verhalten aussehen?
Am besten isoliert man die Begleitperson erst einmal räumlich von dem Patienten oder der Patientin. Man muss dringend eine Situation schaffen, in der man mit dem Patienten oder der Patientin alleine sprechen kann. Wenn häusliche Gewalt auf Nachfrage verneint wird, muss man das allerdings als medizinisches Personal unbedingt respektieren. Das ist für mich eine ganz wichtige Botschaft: Man darf von Gewalt Betroffene nicht gegen ihren Willen etwas aufzwingen. Diese brauchen im Schnitt fünf bis sieben Anläufe, bevor sie überhaupt etwas sagen. Jede Nachfrage eröffnet einen Weg dorthin. Wichtig ist, in die Dokumentation mitaufzunehmen, dass man nachgefragt hat. Viele betroffene Personen von häuslicher Gewalt sagen im Nachhinein: Ich wünschte, es hätte jemand gefragt.
Warum ist eine gerichtsfeste medizinische Dokumentation so wichtig?
Es kann Jahre nach dem ersten Auftreten von Gewalt passieren, dass dann irgendein Auslöser dazu führt, dass der oder die Betroffene endlich zur Polizei geht und Gewalt anzeigt. Allerdings passiert das nur in geschätzten zehn Prozent der Fälle überhaupt. Ersthelfer nach häuslicher Gewalt sind dagegen Beschäftigte aus der medizinischen Versorgung. Wenn dann die Ersthelfenden ihren Verdacht medizinisch richtig dokumentieren, kann das vor Gericht später ein wertvoller Baustein für den Beweis von Gewalt sein, der dann in vielen Fällen auch herangezogen wird.
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