Jedes vierte Kirchenmitglied in Deutschland denkt über Austritt nach
Die Kirchen bieten gerade in Krisenzeiten wichtige Räume, um Hilfe zu finden und Hilfe zu leisten. Gleichzeitig nimmt die Bindung der Menschen in Deutschland an die Kirchen ab. Insbesondere Katholik:innen erwägen einen Kirchenaustritt. Dies zeigt eine erste Auswertung von Daten des Religionsmonitors 2023 der Bertelsmann Stiftung. Sie beschäftigt sich speziell mit den traditionellen Formen der Religiosität und der Rolle der christlichen Kirchen in Deutschland.
Ein Vergleich der Daten des aktuellen Religionsmonitors mit dem Religionsmonitor 2013 zeigt, dass die Säkularisierung in Deutschland gesamtgesellschaftlich fortschreitet. Während vor zehn Jahren noch fast die Hälfte der Deutschen angaben, sehr oder ziemlich stark an Gott zu glauben, beträgt dieser Anteil heute nur noch 38 Prozent. Jede vierte Person in Deutschland glaubt nicht an Gott. Die repräsentativen Umfrageergebnisse machen zudem deutlich, dass die religiösen Angebote der Kirchen auch von den Kirchenmitgliedern nur unregelmäßig in Anspruch genommen werden: Nur etwa 17 Prozent gehen mindestens einmal im Monat zum Gottesdienst – eine genau so große Gruppe der Kirchenmitglieder geht gar nicht in die Kirche. „Vor allem in der Gruppe dieser passiven Mitglieder kann sich die Frage stellen, ob ein Verbleib in der Kirche angesichts von Kirchensteuern und kritischer Diskussionen über die Institution aus individueller Sicht noch gerechtfertigt ist“, erklärt Yasemin El-Menouar, Religionsexpertin der Bertelsmann Stiftung.
Laut aktuellem Religionsmonitor hat jedes vierte Kirchenmitglied im vergangenen Jahr über einen Austritt aus der Kirche nachgedacht. Jedes fünfte äußert eine feste Austrittsabsicht. Bei den 16- bis 24-Jährigen zeigen sich sogar 41 Prozent entschlossen, die Kirche zu verlassen, unter den 25- bis 39-Jährigen sind es 35 Prozent.
„Der Trend, dass die Kirchen an gesellschaftlicher Relevanz verlieren, wird durch mehrere Faktoren geprägt: Erstens, die zunehmende Individualisierung, durch die traditionelle kirchliche Formen der Religiosität durch privatere Formen der Spiritualität ersetzt werden. Zweitens, die steigende Vielfalt der Bevölkerung infolge von Einwanderung, und, drittens, eine zunehmend kritische Sicht vieler Mitglieder auf die Kirche“, sagt Religionsexpertin Yasemin El-Menouar.
So geben vier von fünf Kirchenmitgliedern, die eine Austrittsabsicht haben, an, dass sie das Vertrauen in religiöse Institutionen verloren haben. Bei den Austrittswilligen sind Katholik:innen mit zwei Dritteln überproportional vertreten. „Hier schlagen sich vermutlich die Missbrauchsskandale und die geringe Reformbereitschaft der römischen Kurie nieder“, erklärt Stephan Vopel, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung.
Laut neuem Religionsmonitor sehen viele austrittwillige Kirchenmitglieder die gesellschaftliche Dominanz der Kirchen generell kritisch: 71 Prozent in dieser Gruppe denken, dass die Kirchen zu viel Macht haben, und 68 Prozent finden kirchliche Privilegien in einer multireligiösen Gesellschaft ungerecht.
Die Abwendung von den Kirchen bedeutet nicht unbedingt zugleich eine Abwendung von Religion generell: 92 Prozent derer, die austreten wollen, stimmen der Aussage zu, dass „man auch ohne Kirche Christ sein“ könne. Selbst unter den Mitgliedern ohne Austrittsabsicht bekräftigen 84 Prozent diese Aussage. „Hier zeigt sich: Die Gleichung ‚religiös = kirchlich‘ gilt für sehr viele Menschen nicht mehr“, sagt El-Menouar.
Stellenwert der Kirchen in der Gesellschaft verändert sich
Die christlichen Kirchen sind weiterhin wichtige gesellschaftliche Akteure, aber sie vertreten nicht länger die Mehrheit der Gesellschaft. Denn die evangelische und die katholische Kirche repräsentieren jeweils nur noch etwa ein Viertel der Bevölkerung. Diese „Entkirchlichung“ der Gesellschaft mindert die Legitimation der Kirchen als Institutionen, die soziale und politische Diskussionen in Deutschland traditionell stark bestimmen. Das historisch gewachsene Selbstverständnis der Kirchen steht damit in Frage. Die Kirchen müssen sich in einer zunehmend religiös pluralistischen Gesellschaft neu verorten. Das betrifft auch das historisch gewachsene Kooperationsverhältnis zwischen Staat und Kirche in Deutschland.
„Wir brauchen”, so Vopel, „eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie ergänzende, neue Formen der Kooperation zwischen Staat und Glaubensgemeinschaften geschaffen werden können”. Damit verbunden sei auch die Frage, wie es gelingen könne, anderen Religionsgemeinschaften mehr Rechte aber auch Pflichten zu übertragen. Ob bei der Wohlfahrtspflege, bei Seelsorge und Hilfe in Krisenzeiten oder bei der religiösen Bildung an Schulen und Hochschulen. „Eine zeitgemäße, moderne Religionspolitik muss der religiös-weltanschaulichen Vielfalt Rechnung tragen, die sich längst als gesellschaftliche Normalität etabliert”, erläutert Vopel.
Bei den repräsentativen Daten, die für den Religionsmonitor im vergangenen Sommer erhoben wurden, steht das Thema „Religion und Glaube in Zeiten der Krise“ im Fokus. Hierzu wird es im kommenden Jahr eine Reihe von Studien zu unterschiedlichen Aspekten dieses Themenfeldes geben, unter anderem zur Rolle von Religion zur Krisenbewältigung, zu Solidarität und zu Verschwörungsglauben.
Zusatzinformationen:
Weitere Informationen zur Rolle der Kirche in Deutschland bietet der Religionsmonitor kompakt „Kirchen zwischen Bedeutungsverlust und Neuverortung in einer vielfältigen Gesellschaft“.
Mit dem Religionsmonitor untersucht die Bertelsmann Stiftung seit 2008 ländervergleichend die Rolle von Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für den Religionsmonitor 2023 wurden insgesamt 10.657 Menschen in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Polen sowie den USA befragt. Allein in Deutschland haben sich 4.363 Menschen beteiligt. Die Datenerhebung für den Religionsmonitor 2023 wurde vom infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt. Die dieser Studie zugrundeliegenden Daten beziehen sich auf die Grundgesamtheit der Bevölkerung in Deutschland im Alter ab 16 Jahren. Erstmals wurde für den Religionsmonitor der Einsatz einer Melderegisterstichprobe für Deutschland gewählt, der den aktuell bestmöglichen Stichprobenzugang für Bevölkerungsbefragungen darstellt (N=2.038). Dieser Ansatz wurde ergänzt durch eine Zusatzstichprobe auf Basis eines Online-Access-Panels (N=2.325); beide Stichprobenquellen wurden mittels geeigneter Gewichtung miteinander verknüpft und bilden gemeinsam die Datenbasis der vorliegenden Analysen.
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