Ein menschliches Modell für Autismus
- Forschende haben eine Methode weiterentwickelt, mit der sie Zellen in menschlichem Gewebe (in sogenannten Organoiden) in der Petrischale mosaikartig verändern können.
- Die Technologie hilft, den molekularen Ursachen von Erbkrankheiten oder von Besonderheiten der Hirnentwicklung wie zum Beispiel Autismus schneller auf die Spur zu kommen.
- Die Forschung mit Organoiden ist eine Alternative zu Tierversuchen und hilft, letztere zu reduzieren.
Wie entsteht Autismus? Welche Gene und Zellen im menschlichen Gehirn tragen dazu bei? Ein neues Hirn-Organoid-Modell erlaubt es Forschenden des Departements für Biosysteme der ETH Zürich in Basel und Kolleg:innen aus Wien, diesen Fragen in menschlichen Zellen nachzugehen. Organoide sind aus Stammzellen gezüchtete Gewebekügelchen, die ähnlich aufgebaut sind wie richtige Organe, also eine Art Miniaturorgane.
Damit und mit einer neuen Methode, um in diesen Organoiden mit der Genschere Crispr/Cas Gene verändern zu können, fanden die Forschenden heraus, welche Gennetzwerke in welchen Zelltypen des Gehirns für die Entwicklung von Autismus verantwortlich sind. «Unser Modell erlaubt uns einen beispiellosen Einblick in eine der komplexesten Störungen des menschlichen Gehirns und gibt der klinischen Autismus-Forschung die dringend benötigte Hoffnung», sagt Jürgen Knoblich, Professor und wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und Mitautor der Studie.
Zellen unterschiedlich verändern
Die neue Methode ermöglichte es den Forschenden, die Zellen eines Hirn-Organoids mosaikartig zu verändern und sie anschliessend systematisch zu untersuchen. Konkret veränderten die Wissenschaftler:innen in den einzelnen Zellen jeweils eines von 36 unterschiedlichen Genen, die mit Autismus in Verbindung stehen, und untersuchten die Auswirkungen davon. «Wir können die Folgen jeder Veränderung in einem einzigen Experiment sehen und so die Analysezeit im Vergleich zu traditionellen Methoden erheblich verkürzen», sagt Knoblich.
Entwickelt haben die neue Methode die Forschenden des IMBA in Wien, basierend auf Vorgängermethoden. Die Gruppe von Barbara Treutlein, Professorin für Quantitative Entwicklungsbiologie an der ETH Zürich, übernahm in der aktuellen Studie die computergestützte Auswertung der Forschungsrohdaten: Wenn man in einem menschlichen Organoid mehrere Gene parallel verändert und die Auswirkungen davon auf der Ebene von Tausenden einzelner Zellen untersucht, so entsteht eine riesige Datenmenge. Um diese bewältigen zu können, nutzten Treutlein und ihr Team modernste Bioinformatik-Methoden.
Vorteil menschlichen Gewebes
Bei der Erforschung von menschlichen Krankheiten bieten Organoide gegenüber der Forschung mit Versuchstieren Vorteile. Denn anders als in Versuchstieren lassen sich in Organoiden menschliche Gene und Zellen untersuchen. Diese Vorteile sind in den Neurowissenschaften besonders bedeutend: Für die Entwicklung der menschlichen Grosshirnrinde (Kortex) sind spezifische, nur im menschlichen Gehirn ablaufende Prozesse zuständig. Neurologische Entwicklungsstörungen des Menschen sind zum Teil auf diese menschenspezifischen Prozesse bei der Hirnentwicklung zurückzuführen. So sind etwa viele menschliche Gene, die ein erhöhtes Risiko für eine Autismus-Spektrum-Störung mit sich bringen, solche, die für die Entwicklung des Kortex entscheidend sind.
Frühere Studien haben einen ursächlichen Zusammenhang zwischen bestimmten Genmutationen und Autismus gezeigt. Wissenschaftler:innen verstehen aber immer noch nicht, wie diese Mutationen zu Defekten in der Gehirnentwicklung und zur Ausprägung von Autismus-Spektrum-Störungen führen. Wegen der Einzigartigkeit der menschlichen Gehirnentwicklung ist der Nutzen von Tiermodellen in diesem Fall begrenzt. «Nur ein menschliches Modell des Gehirns wie das unsere kann die Komplexität und die Einzigartigkeit des menschlichen Gehirns widerspiegeln», sagt Knoblich.
Frühe Gehirnveränderungen führen zu Autismus
In ihrem Organoid-Modell konnten die Forschenden zeigen, dass sich die Autismus-typischen genetischen Veränderungen vor allem in bestimmten Typen von neuronalen Vorläuferzellen auswirkten. Das sind die Gründerzellen, aus denen die Nervenzellen entstehen. «Dies deutet darauf hin, dass es schon in einer frühen Phase der Gehirnentwicklung – während der Entwicklung des Fötus im Mutterleib – zu molekularen Veränderungen kommt, die schliesslich zu Autismus führen», sagt Chong Li, Postdoc am IMBA und einer der beiden Erstautoren der Studie. «Einigen Zelltypen, die wir nun identifiziert haben, sollte bei der künftigen Erforschung von Autismus-Genen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.»
Ausserdem enthüllten die Wissenschaftler:innen, dass es Zusammenhänge gibt zwischen den untersuchten 36 Autismus-Hochrisiko-Genen: «Mithilfe eines von uns entwickelten Programms konnten wir zeigen, dass diese Gene über ein Netzwerk zur Genregulation miteinander verbunden sind, miteinander wechselwirken und dadurch in den Zellen ähnliche Auswirkungen haben», sagt Jonas Fleck, Doktorand in der Gruppe von ETH-Professorin Treutlein und ebenfalls ein Erstautor der Studie.
Tierversuche reduzieren
Um zu überprüfen, ob die Ergebnisse aus dem Organoid-Modell tatsächlich auf Autismus-Betroffene übertragbar sind, haben die Forschenden gemeinsam mit Klinikern der Medizinischen Universität Wien aus zwei Stammzellproben von Betroffenen Gehirn-Organoide hergestellt. Dabei zeigte sich, dass die Organoid-Daten eng mit bei den Betroffenen gemachten klinischen Beobachtungen übereinstimmten.
Die Forschenden betonen, dass ihre Technologie zur mosaikartigen Veränderung von Organoid-Zellen auch für Organoide anderer menschlichen Organe und zur Untersuchung anderer Krankheiten verwendet werden kann. Es ist ein neues Forschungswerkzeug, um schnell eine grosse Zahl von Genen zu untersuchen, die mit Krankheiten in Verbindung stehen. «Damit hilft die Technologie, relevante Forschungsergebnisse direkt mit menschlichen Organoiden in Zellkultur zu gewinnen», sagt Treutlein. «Ausserdem können die menschlichen Organoid-Krankheitsmodelle auch dazu verwendet werden, die Wirksamkeit von Medikamenten zu testen. Dies kann dazu beitragen, Tierversuche zu reduzieren.»
Dieser Artikel ist eine überarbeitete Fassung einer externe SeiteMedienmitteilungcall_made des IMBA.
Literaturhinweis
Li C, Fleck JS, Martins-Costa C, Burkard TR, Themann J, Stuempflen M, Peer AM, Vertesy Á, Lttleboy JB, Esk C, Elling U, Kasprian G, Corsini NS, Treutlein B, Knoblich JA: Single-cell brain organoid screening identifies developmental defects in autism. Nature, 13. September 2023, doi: externe Seite10.1038/s41586-023-06473-ycall_made
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