
Schweigsam startklar? Schulreife bei Kindern mit Mutismus richtig einschätzen
Marie ist ein Vorschulkind mit Vorfreude auf die Grundschule. Mit dem ersten Eindruck unterscheidet sie sich nicht von ihren künftigen Mitschülern. Stolz, wie auch etwas unsicher und zittrig hat sie ihren Namen gut lesbar geschrieben. Marie freut sich, ebenso wie ihre Erzieherinnen. Dennoch hängt über diesem kleinen Erfolg ein großes Fragezeichen: Ist Marie bereit für den Eintritt in die Grundschule?
Diese Frage kommt nicht von ungefähr, denn das mutistische Mädchen hat seit vier Jahren im Kindergarten kein Wort gesprochen. Die anderen Kinder und das Kita-Personal kennen Marie nur schweigend. Keine Gespräche, kein Singen: Kommunikation erfolgt bei Marie ausschließlich nonverbal. Und doch scheint sie alles zu verstehen und sich gut einzufügen.
Schulreife geht über Buchstaben und Zahlen hinaus
Maries Eltern sind verunsichert und von vielen Fragen begleitet – so wie jährlich tausende Erziehungsberechtigte von Vorschulkindern mit Mutismus. Denn die Entscheidung über die Einschulung orientiert sich nicht allein an kognitiven Fähigkeiten.
Es zählt ebenso die sozial-emotionale Reife eines Kindes. Kann es Kontakt zu anderen aufnehmen? Ist es in der Lage, Konflikte verbal zu lösen und sich in eine Gruppe einzufügen? Zeigt sich ein Kind neugierig? Verfügt es über ein gewisses Maß an Impulskontrolle, Frustrationstoleranz und psychischer Stabilität?
Bei Kindern wie Marie – Kindern mit selektivem Mutismus – ist das für die eigenen Eltern wie auch für erfahrene pädagogische Kräfte oft nur schwer zu beurteilen. Das Schweigen des Kindes lässt häufig keine objektive Einschätzung dieser Kompetenzen zu.
Das Schweigen und sein lautes Echo
Trotz altersentsprechender intellektueller Fähigkeiten ist bei mutistischen Kindern häufig eine Verzögerung der sozialen Entwicklung zu beobachten. Durch das kontinuierliche Schweigen mangelt es betroffenen Kindern am praktischen Sammeln wichtiger sprachlich-kommunikativer Erfahrungen. Doch ebendiese Kompetenzen sind für ihre Persönlichkeitsentwicklung von essenzieller Bedeutung.
Spiele, gemeinsame Aktivitäten und Gesprächskreise im Kindergartenumfeld werden gemieden, Kontakte nur spärlich oder gar nicht geknüpft. Diese kommunikative und soziale Teilnahmslosigkeit erschwert nicht nur die Entwicklung eines stabilen Selbstbilds, sondern gefährdet auch nachhaltig die Identitätsbildung.
Schätzungen, Statistiken und Studien zu selektivem Mutismus fallen unterschiedlich aus. Es wird gemeinhin davon ausgegangen, dass etwa 0,7 % aller Kinder betroffen sind, davon zwei Drittel Mädchen. Häufig bleibt die Störung mitunter bis ins Jugend- oder Erwachsenenalter unerkannt oder wird erst sehr spät diagnostiziert.
Diese Entwicklung ist nicht nur außergewöhnlich, sondern auch folgenreich: Spät oder nicht diagnostizierte Mutismus-Betroffene neigen zu anhaltenden Kommunikationsproblemen und Sprechängsten. Das Schweigen manifestiert sich über Jahre hinweg und gipfelt in sozialem Rückzug sowie Depressionen im Jugend- und Erwachsenenalter.
Mutismus-Früherkennung und individuelle Betrachtungen zur Schulreife
Diagnostik und Intervention sind bei Mutismus von zentraler Bedeutung. Je früher Betroffene gezielte therapeutische Unterstützung erhalten, desto größer sind die positiven Entwicklungschancen. Als kritischer Wendepunkt wird dabei das Erreichen des zehnten Lebensjahres gesehen. Der Start in die Grundschule mit etwa sechs Jahren bietet bei etwaigem Mutismus-Verdacht also einen „guten Anlass“ zur Diagnostik und Beginn möglicher Therapiemaßnahmen.
Kinder mit Mutismus erfüllen zwar häufig die kognitiven Voraussetzungen zur Einschulung, jedoch mangelt es ihnen an essenziellen sprachlich-sozialen Fähigkeiten. Zur realistischen Einschätzung der Schulreife sollten daher nicht ausschließlich klassische Testverfahren dienen. Wichtiger und aussagekräftiger ist eine individuelle Betrachtung im Austausch zwischen Eltern und Fachkräften sowie gegebenenfalls in therapeutischer Begleitung.
Neben den klassischen Prüfmustern zur Schulreife können dabei zusätzliche Aspekte wie gezielte Beobachtung, nonverbale Interaktionen oder spezifische Förderung berücksichtigt werden. Selektiver Mutismus darf niemals ein pauschales Ausschlusskriterium für Bildung und Teilhabe darstellen. Doch ohne konkrete Unterstützung ist eine stille Form der Isolation praktisch vorprogrammiert. Durch die frühe Erkennung und einen sensiblen Umgang können betroffenen Kindern weitreichende Folgen in Bereichen wie Berufswahl, Partnerschaft und Selbstständigkeit nachhaltig erspart bleiben.
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