„Klarere Position der Kirchen in Konflikten wünschenswert“
Herr Marynovytsch, seit 1991 ist die Ukraine unabhängig. Danach folgten zwei Majdan-Revolutionen, 2004 und 2014. Wie hat sich das Land seitdem verändert und wo steht es 2020?
Auf der einen Seite bin ich überrascht über die großen Veränderungen in der Gesellschaft. Wenn ich heute mit den 1980er Jahren vergleiche, dann scheinen das zwei verschiedene Länder und Nationen zu sein. Auf der anderen Seite bin ich auch überrascht, wie sehr die Tradition des Homo sovieticus, also der Einfluss der sowjetischen Ideologie, weiterhin aktuell ist. Es gibt da viele Überbleibsel, etwa im Justizsystem, das wir reformieren müssen. Oder in Form eines Paternalismus. Viele Ukrainer denken noch sehr paternalistisch und wünschen sich einen Zaren oder starken Präsidenten zurück, der seine Arbeit so verrichten möge, dass sie die Verantwortung für ihr eigenes Leben abgeben können. Nach den Revolutionen aber wächst eine neue Gesellschaft heran, die Verantwortung übernehmen möchte. Die neue Generation der heute etwa 25- bis 40-Jährigen will auch ohne Korruption erfolgreich sein. Zugleich gibt es noch viele Leute, die vom Paternalismus profitieren. Wir sind also ein Land in einer Transformation.
Und ein Land, in dessen Osten seit 2014 ein bewaffneter Konflikt andauert…
Ich vermeide das Wort „Konflikt“. Denn Russland will der Welt glaubhaft machen, es sei ein Konflikt zwischen den Ukrainern und sie selbst nicht Teil davon. Wie bei der Krim, da wurde auch gesagt, russische Soldaten seien nicht da, aber dann hat Putin es selbst zugegeben. Geheimdienste und die NATO wissen zu gut, dass Waffen und Munition von Russland geliefert werden. Soll das etwa humanitäre Hilfe sein? Ein weiterer Punkt: Beim Wort „Krieg“ denkt die Welt gleich an Panzer, Armeen, Atombomben und große Zerstörungen. Aber bei diesem hybriden Krieg ist der Einsatz von Militär der letzte Ausweg. Zu Beginn gab es einen Informationskrieg, wirtschaftlichen Druck und andere Dinge, die die Ukraine untergraben sollten.
Sie selbst waren Dissident in der Sowjetzeit und saßen in sowjetischer Haft. Sehen Sie dazu heute Parallelen?
Ich kann mich erinnern, wie ich damals am Radio saß und die vermeintliche „feindliche Stimme“ hörte, was die Machthaber durch Störsignale zu unterbinden versuchten. Es gab da ein interessantes Phänomen: Wenn die Menschen das Radiosignal empfangen konnten, unterschieden sie zwischen Wahrheit und Lüge. Heute braucht es diese Störsender und Informationsblockaden gar nicht. Ein Beispiel: Meine Moskauer Freunde erzählten mir, das russische Fernsehen habe während des Majdans 2014 ganz andere Informationen verbreitet als die, die sie später von ihren ukrainischen Verwandten bekamen. Wollten die ukrainischen Verwandten sie also in die Irre führen? Die Menschen können heute nicht zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden. Mancher Riss geht jetzt durch ganze Familien. Das ist eine zutiefst religiöse Herausforderung: Denn Christus ist die Wahrheit. Wenn Menschen nicht zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden können, dann ist das eine Katastrophe für die Menschheit.
Sie beschreiben das Phänomen der „fake news“, das es nun auch im Westen gibt. Sogenannte Faktenchecker entlarven diese Lügen aber…
Ja, man kann Lügen dekodieren. Aber der Einfluss der Lüge bleibt sehr stark. Denn die Menschen denken nicht daran, die Information zu überprüfen. Die Menschen wählen Informationen gemäß ihrer Glaubenssätze.
Das westukrainische Lviv liegt über 1.200 Kilometer weit weg von der Front im Osten. Den Krieg bekommt man hier nicht direkt mit, aber wie hat er insgesamt das Land verändert?
Wir konnten eine besondere Dynamik beobachten: Direkt nach dem Beginn der russischen Aggression hatten wir eine Art Explosion von Patriotismus und Gefühlen einer nationalen Einheit. Selbst viele russischsprachige Ukrainer und ethnische Russen, die hier wohnen, waren einfach schockiert von der Aggression, die Russland gezeigt hat. Es war eine wirklich erstaunliche Einheit für ein so verschiedenartiges Land wie die Ukraine – zumindest zu Beginn. Später begann das abzuflachen. Verantwortlich dafür war etwa die Politik, die Angst hatte, das System radikal zu verändern. Man muss sich unsere Politik wie eine ukrainische Straße vorstellen, voller Löcher. Wir haben einen Begriff dafür, wenn die Straße nur geflickt wird und der Straßenbelag nicht getauscht wird, „yamkovyi remont“. Das passiert auch in der Politik, sie flickt Löcher, aber die Straße bleibt die gleiche.
Wie kann also Frieden hergestellt werden?
Ich bin zwar ein wenig pessimistisch, was eine politische Lösung angeht. Aber eine Lösung für diesen Konflikt kann nur europäisch sein. Momentan geht jedes Land seinen eigenen Weg, ob Deutschland mit der Ostseepipeline „North Stream“ oder die Alleingänge von Frankreich, Italien oder Ungarn in der Russlandpolitik. Da fehlt es an Solidarität. Vielleicht kommt es zu unerwarteten Entwicklungen in Russland? Auch die Ukraine muss sich verändern. Bei diesen Herausforderungen kann uns nur Gott helfen. Ich erinnere mich an meine Zeit im Gefängnis, als der Glaube mir Kraft gab. Ich glaube, dass auch politische oder wirtschaftliche Lösungen eine spirituelle Komponente brauchen. Ganz konkrete Vorschläge habe ich leider nicht.
Welche Rolle haben die christlichen Kirchen in der Ukraine beim Friedensprozess in der Ostukraine?
Den Konflikt können die Kirchen nicht lösen. Aber es geht hier um Solidarität mit den Menschen, die das alles auf eine andere Dimension stellt, die des Evangeliums. Wir können über theoretische Friedenspläne sprechen und über den Krieg diskutieren, aber wenn die Menschen unter Beschuss sind und schnelle Hilfe benötigen, dann ist das am wichtigsten. Der Krieg in der Ukraine ruft zum Handeln auf, und mit Unterstützung von Renovabis macht die katholische Kirche da schon einiges. Auch unterstützt Renovabis viele Projekte, die sich um Friedensaufbau bemühen. Es ist gut, dass es Renovabis versteht, in den Prozess des Dialoges zu investieren. Aber ich muss auch sagen, dass die christlichen Kirchen in der Ukraine und auf der Welt das Evangelium zu wenig auf die politische Agenda stellen und sich nicht trauen, die politischen Führer mit den Worten des Evangeliums anzusprechen. Hier wäre eine klarere Position der Kirchen in Konflikten wünschenswert.
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