ESG 2021 – Standard ist kein Allheilmittel
- Standardisierung verlangt bessere ESG-Bewertungssysteme
- Immaterielle Vermögenswerte nur schwer quantifizierbar
- Derzeitiger ESG-Standard könnte IPO innovativer Unternehmen verhindern
Die anstehende EU-Taxonomie rückt die Frage nach der Bewertung von ESG-Faktoren bei allen Marktteilnehmern in den Mittelpunkt. Die Erwartungshaltung ist enorm, die Nachfrage noch ESG-konformen Anlageprodukte steigt. Laut Antony Marsden, Head of Governance and Responsible Investment bei Janus Henderson Investors, mangelt es jedoch nicht nur an verlässlichen ESG-Daten: „Um mehr Vertrauen im gesamten Investitionsprozess aufzubauen, muss die Branche die ESG-Berichterstattung verbessern sowie die Unternehmensbewertung realistischer und kontextbezogener gestalten.“
ESG-Bewertung auf dem Vormarsch, aber…
2020 wurden erhebliche Fortschritte erzielt. Unternehmen sind sich der zunehmenden Bedeutung, die Anleger ESG-Faktoren beimessen, bewusst und legen mehr Wert auf die Berichterstattung. Außerdem wurden globale Standards wie das Sustainability Accounting Standards Board, das International Integrated Reporting Council und die Global Reporting Initiative vergleichbarer. Die von der Europäischen Union festgelegten Regelungen zur ‚grünen‘ Klassifizierung von Unternehmen und Anlageprodukten anhand detaillierter Kriterien spielen nicht nur in Europa eine wichtige Rolle. „Die Bemühungen zur Kodifizierung, Standardisierung und Regulierung von ESG sind zwar wichtig, stellen aber kein Allheilmittel dar“, warnt der Experte. Er fordert: „Um das Versprechen der Standardisierung einzulösen, brauchen wir qualitativ höherwertige ESG-Bewertungssysteme.“
…Standardisierung birgt auch Probleme
Die Aussage ‚Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt‘ ist auch für ESG relevant. „Wenn Unternehmen numerische Punktzahlen zugewiesen werden, konzentriert man sich zwangsläufig auf das leicht mess- und standardisierbare, während schwierigere, aber letztlich aussagekräftigere Bewertungsmetriken ignoriert werden. Die Kehrseite der Standardisierung ist, dass man sich zu sehr auf die Ergebnisse verlässt“, so Marsden.
Als Beispiel nennt der Investmentexperte den Governance-Aspekt. Bewertungssysteme für die Zusammensetzung von Aufsichtsräten hingen vollständig von objektiv messbaren Governance-Merkmalen ab. Darunter fallen beispielsweise die Unabhängigkeit und Beständigkeit von Aufsichtsräten oder ob ein Aufsichtsrat zu viele Mandate innehat und zeitlich nicht allen gerecht werden kann. „Wichtigere Faktoren, wie etwa Wissen, Erfahrung und Kompetenz eines Vorsitzenden, sowie ihre Effizienz, werden weitgehend ignoriert“, weiß der Experte bei Janus Henderson.
Corona als Lackmustest
Der übermäßige Einsatz von quantitativ dominierten Bewertungssystemen geht häufig mit einem übermäßigen Vertrauen in die Ergebnisse und dem Nicht-Erkennen ihrer Grenzen einher. Übertragen auf Anlageprodukte kann dies dazu führen, das Vertrauen zu untergraben, wenn sich herausstellt, dass Fonds mit ESG-Anspruch Unternehmen enthalten, die in ethische Kontroversen verwickelt sind. Marsden ist sicher: „Ein übermäßiger Fokus auf das Scoring der Anlageprodukte fördert den Irrglauben, dass Unternehmen in die Guten und die Schlechten, die Nachhaltigen und die Nicht-Nachhaltigen eingeteilt werden könnten. Die Subjektivität von ESG und das Spannungsverhältnis zwischen seinen verschiedenen zugrundeliegenden Komponenten wird ignoriert. Es ist nicht überraschend, dass sich verschiedene ESG-Ratings oftmals stark voneinander unterscheiden. Überraschend ist, dass jeder eine Konvergenz im Laufe der Zeit erwartet.“
Die Ereignisse im Jahr 2020 haben die Grenzen von ESG-Scoring-Methoden und die Bedeutung eines flexiblen Ansatzes in aller Deutlichkeit aufgezeigt. Die Corona-Krise war in vielerlei Hinsicht ein Lackmustest für die Unternehmensverantwortung, ist aber in ESG-Scoring-Systemen nicht abgebildet. „In Zeiten schnellen Wandels, in denen sich wichtige ESG-Aspekte über Nacht ändern, können wir nur mit flexiblen Analysen, die auf fundierter unternehmensspezifischer Recherche und dem Engagement von Unternehmen beruhen, reagieren“, so Marsden.
Technologiesektor besonders herausfordernd
Der Technologiesektor stellt eine besondere Herausforderung für traditionelle ESG-Bewertungssysteme dar, da er hauptsächlich auf immateriellen Vermögenswerten basiert. Viele Rating-Firmen, die die potenziell negativen Auswirkungen von Faktoren wie Datenschutz, psychische Gesundheit, Demokratie, Sucht und allgemeines Wohlergehen nicht erkannt haben, haben Technologieunternehmen recht unbekümmert bewertet. „Der Versuch ESG-Kriterien auf große Technologieunternehmen anzuwenden, verdeutlicht auch die Unzulänglichkeit des Gut/Böse-Spektrums der Analyse. Häufig haben diese Unternehmen sowohl positive als auch negative Eigenschaften und entwickeln Produkte, die das Leben vieler Menschen verbessern, während sie gleichzeitig die Gesellschaft potenziell schädigen können“, sagt der Experte von Janus Henderson.
Nebenwirkungen: Aussichtsreiche Pioniere könnten Börse fernbleiben
Vorsicht ist geboten: Schnell wachsende innovative Unternehmen, von denen viele das Potenzial haben etablierte Unternehmen zu verdrängen oder zumindest zu verändern und die Wirtschaft auf einen nachhaltigeren Kurs zu bringen, können von den gängige ESG-Metriken falsch bewertet werden. Marsden warnt: „Oftmals haben die Pionier-Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit nicht die erforderlichen Ressourcen für die ESG-Berichterstattung und schneiden somit bei den ESG-Bewertungen schlecht ab. Sollte es nicht gelingen, ESG-Bewertungen flexibler und realistischer abzubilden, führt dies wahrscheinlich dazu, dass einige der innovativsten nachhaltigen Unternehmen nicht an die Börse gehen – zum Nachteil der Anleger.“
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