Deutsche Politik redete Kohle jahrzehntelang schön
„Es ist bemerkenswert, dass das Thema Klimaschutz in Zusammenhang mit Kohle in Deutschland erst nach dem Ende der Koalition von Sozialdemokraten und Grünen hochkam“, sagt Finn Müller-Hansen, Forscher in der MCC-Arbeitsgruppe Angewandte Nachhaltigkeitsforschung und Leitautor der Studie. Die rot-grünen Bundesregierungen amtierten von 1998 bis 2005. „Der Atomausstieg als zentrales energiepolitische Projekt hatte in dieser Zeit Priorität, und vergleichsweise effiziente neue Kohlemeiler galten als vielversprechende Brückentechnologie. Unsere Analyse liefert die Erklärung dafür, warum andere Länder, etwa Großbritannien, beim Kohleausstieg schon viel weiter sind als Deutschland.“
Um auszumessen, wie sich die Bewertung der Kohleverstromung genau verändert hat, nutzte das Forschungsteam die Methode des Topic Modeling. Damit können computergestützt große Textmengen auf ihre semantischen Strukturen hin analysiert und Querverbindungen ermittelt werden. Im Ergebnis zeigt sich die „Karriere“ der Kohle in den letzten sieben Jahrzehnten: In der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg war sie zunächst Symbol des Fortschrittsversprechens, nach der ersten Ölkrise 1973 dann Garant von Energiesicherheit, in den 1980er-Jahren wurde sie dann erstmals auch mit kritischem Unterton als Ursache für Luftverschmutzung und Sauren Regen benannt und erst seit 15 Jahren als ein Kernproblem im Klimaschutz. Auch die spezifische Bewertung dieses Energieträgers in den unterschiedlichen politischen Parteien sowie in den einzelnen Regionen wird in der Studie präzise abgebildet.
Auch jenseits dieser konkrete Fragestellung für Deutschland, so betont MCC-Wissenschaftler Müller-Hansen, bietet der neuartige Forschungsansatz Potenzial: „Für erfolgreichen Klimaschutz ist es wichtig, ein Gespür für das Framing in energiepolitischen Debatten zu entwickeln – also in welche Zusammenhänge zum Beispiel eine bestimmte Technik oder eine bestimmte Maßnahme eingebettet ist und wie sich dies über die Zeit verändert.“ Solche politischen Festlegungen seien es, die in vielen Ländern eine ambitioniertere Klimapolitik verhindern. „Unsere Studie ist ein Beispiel dafür, wie man diese Framings analytisch packen und Reformpolitik auf eine belastbare kommunikative Grundlage stellen kann.“
Das MCC erforscht nachhaltiges Wirtschaften sowie die Nutzung von Gemeinschaftsgütern wie globalen Umweltsystemen und sozialen Infrastrukturen vor dem Hintergrund des Klimawandels. Unsere sieben Arbeitsgruppen forschen zu den Themen Wirtschaftswachstum und -entwicklung, Ressourcen und Internationaler Handel, Städte und Infrastrukturen, Governance sowie wissenschaftliche Politikberatung. Das MCC ist eine gemeinsame Gründung der Stiftung Mercator und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).
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