Retroviren schreiben das Koala-Genom um und verursachen Krebs
Das Koala-Retrovirus (KoRV) ist ein Virus, das sich wie andere Retroviren, beispielsweise HIV, in das Erbgut einer infizierten Zelle selbst einbaut. Irgendwann in den letzten 50.000 Jahren hat KoRV die Eizellen oder Spermien von Koalas infiziert, wodurch Nachkommen entstanden, die das Retrovirus in jeder Zelle ihres Körpers tragen. Die gesamte Koala-Population von Queensland und New South Wales in Australien trägt nun Kopien von KoRV in ihrem Erbgut. Alle Tiere, Menschen inklusive, haben irgendwann in ihrer Evolutionsgeschichte ähnliche „Keimbahn"-Infektionen durchlaufen und besitzen viele alte Retroviren in ihrem Erbgut. Diese Retroviren sind im Laufe von Millionen von Jahren zu degradierten, inaktiven Formen mutiert, die für den Wirt nicht mehr schädlich sind. Da dieser Prozess bei den meisten Tierarten vor Millionen von Jahren stattgefunden hat, sind die damaligen unmittelbaren gesundheitlichen Auswirkungen auf den Wirt nicht bekannt. Wissenschaftler*innen nehmen jedoch an, dass die Invasion eines Genoms durch ein Retrovirus erhebliche gesundheitliche Schäden verursachen kann. Koalas befinden sich in einem sehr frühen Stadium dieses Prozesses, in dem das Retrovirus noch aktiv ist und die gesundheitlichen Auswirkungen untersucht werden können.
Da Retroviren Krebs verursachen können, wurde vermutet, dass es eine Verbindung zwischen KoRV und den hohen Häufigkeiten an Lymphomen, Leukämie und anderen Krebsarten bei Koalas in Nordaustralien gibt. Um diesen Zusammenhang zu untersuchen, sequenzierte ein Wissenschaftsteam am Leibniz-IZW die DNA wilder Koalas, die an Krebs erkrankt waren. Dadurch konnten sie die Anzahl der KoRV-Kopien im Koala-Erbgut exakt bestimmen und die genauen Stellen identifizieren, an denen das Retrovirus seine DNA eingebaut hatte (Insertionsstellen). Durch den Vergleich dieser Informationen zwischen gesundem Gewebe und Tumorgewebe einzelner Koalas und durch den Vergleich der Insertionsstellen zwischen Koala-Individuen fand das Forschungsteam mehrere Verbindungen zwischen KoRV und den mit Krebs assoziierten Genen.
„Jeder Koala trägt etwa 80 bis 100 vererbte Kopien von KoRV in seinem Genom. Die genomischen Orte der meisten dieser Kopien unterscheiden sich zwischen Koalas, was auf eine schnelle Ausbreitung und Anhäufung von KoRV-Kopien in der Population hinweist. Jedes Mal, wenn sich ein Retrovirus kopiert und wieder in das Genom einfügt, verursacht es eine Mutation, die möglicherweise die Genexpression stört und für den Wirt schädlich sein könnte“, erklärt Prof. Alex Greenwood, Leiter der Abteilung Wildtierkrankheiten am Leibniz-IZW. Das bedeutet, dass KoRV durch häufiges Kopieren an neue Stellen im Genom gegenwärtig eine hohe Mutationslast auf die Koala-Population erzeugt. Tumorgewebe enthält viele neue Kopien von KoRV, was darauf hindeutet, dass es in Tumorzellen aktiver ist. Diese Kopien befanden sich im Allgemeinen in der Nachbarschaft von Genen, die dafür bekannt sind, an der Entstehung von Krebs beteiligt zu sein. Neue KoRV-Insertionen in Tumorgeweben beeinflussen die Expression von Genen in ihrer Nachbarschaft. Solche mit Krebs assoziierten Veränderungen in der Genexpression können ein erhöhtes Zellwachstum verursachen und Zellteilungen beschleunigen, wodurch Tumore entstehen. Obwohl auch andere Faktoren zur Krebsentstehung bei Koalas beitragen können, erhöht die Mutationslast durch KoRV wahrscheinlich die Häufigkeit, dass Zellen krebsartig werden und dass die Zeit verkürzt wird, in der Krebs entsteht.
Bei einem Koala fand das Wissenschaftsteam eine Kopie von KoRV, die ein vollständiges Krebs-relevantes Gen aus dem Koala-Genom in seine DNA-Sequenz eingebaut hatte. Das erhöhte die Expression dieses Gens deutlich und verursachte höchstwahrscheinlich den Krebs bei diesem speziellen Koala. Sollte sich dieses mutierte Retrovirus weiterverbreiten, hätte das schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Bemühungen zum Naturschutz der Koalas. Der Vergleich der Positionen von KoRVs im Erbgut verschiedener Koalas deutet darauf hin, dass das Retrovirus verwandte Koalas für bestimmte Tumore anfällig machen könnte. Koalas, die die gleichen KoRV-Insertionen in bestimmten Krebs-assoziierten Genen haben, leiden an ähnlichen Krebsarten und können diese an ihre Nachkommen weitergeben. Bei allen untersuchten Koalas gab es „Hot Spots“ im Erbgut, in die sich KoRV häufig einfügte. Diese Hot Spots befanden sich auch in der Nähe von Genen, die an Krebs beteiligt sind. „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass KoRV mit mehreren Koala-Krankheiten in Verbindung gebracht werden kann. Auf genomischer Ebene zeigen die Ergebnisse der aktuellen wissenschaftlichen Arbeit, wie eng das Retrovirus mit der hohen Häufigkeit von Krebsentstehung bei Koalas zusammenhängt“, erklärt Gayle McEwen, Wissenschaftlerin am Leibniz-IZW.
Die Erkenntnisse unterstreichen, welche unmittelbaren gesundheitlichen Folgen Keimbahninvasionen durch Retroviren für Wildtiere haben können. Derartige Invasionen sind während der Evolution der Wirbeltiere wiederholt aufgetreten und haben das Erbgut der Wirbeltierarten geprägt, einschließlich der Abstammungslinie, die zum heutigen Menschen führte. Im Laufe der Evolution war der retrovirale Inversionsprozess höchstwahrscheinlich mit schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden. Diese negativen Auswirkungen müssen von Wildtierarten in Kauf genommen und überwunden werden.
In einer anderen, kürzlich veröffentlichten Forschungsarbeit zeigte ein Wissenschaftsteam des Leibniz-IZW, dass im Koala-Genom alte Retroviren vorhanden sind, die den schnellen Abbau von KoRV unterstützen. Koalas befinden sich somit in einem Wettlauf. Sie müssen also die negativen Auswirkungen von KoRV lange genug überleben, damit das Virus abgebaut oder inaktiviert werden kann. In Anbetracht der vielen Bedrohungen für Koalas ist es ein Rennen, das sie gewinnen müssen.
Publikation
McEwen GK, Alquezar-Planas DE, Dayaram A, Gillett A, Tarlinton R, Mongan N, Chappell KJ, Henning J, Tan M, Timms P, Young PR, Roca AL, Greenwood AD (2021): Retroviral integrations contribute to elevated host cancer rates during germline invasion. NAT COMM. doi: 10.1038/s41467-021-21612-7.
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