Hans-Molfenter-Preis 2019: Katrin Ströbel
Der Kunstpreis der Landeshauptstadt Stuttgart ist an eine Präsentation im Kunstmuseum Stuttgart gebunden. Für den Hans-Molfenter-Preis 2019 rückte ein spezifischer Ort im Sammlungsbereich in den Blick. Es handelt sich um eine 25 Meter lange Wandfläche im Erdgeschoss des Museums. Sie verbindet die links- und rechtsseitigen Sammlungsräume und definiert den langgestreckten Korridor, der so charakteristisch für die Architektur des Hauses ist. Katrin Ströbel reagiert auf diesen Ort mit einem mehrteiligen Werk im Medium der Zeichnung und nutzt damit eine Technik für die sie bekannt ist. »Vom Berühren und Begreifen« besteht aus einer Wandzeichnung und 14 gerahmten Aquarell- und Kohlezeichnungen, die auf der bearbeiteten Wandfläche positioniert wurden. Das Leitmotiv der Arbeit ist das »Berühren«.
Angefasst wurde die Wandfläche von 35 Mitarbeiter:innen aus sämtlichen Abteilungen des Kunstmuseums. Mit Maske vor dem Mund und nach dem mittlerweile fast rituellen Desinfizieren und Eincremen der Hände bat die Künstlerin den:die jeweilige:n Mitarbeiter:in, sich der Wand zu nähern, und begann ein Gespräch über deren:dessen Tätigkeit im Museum. Ströbel fokussierte bei ihren Fragen insbesondere die täglichen Handlungen der Hände und bewirkte damit einen wirkungsvollen Einklang von Denken, Sprechen und Handeln. Während die routinierten Gesten der Hände beschrieben wurden, tasteten sich die Finger und Handflächen an der Wand entlang – und zwar mit dem Wissen, dass die Spuren im Nachgang von der Künstlerin mit Hilfe von Spurensicherungspulver zum Vorschein gebracht und auf der Wand als Teil ihres Kunstwerks fixiert würden.
Die vollendete Wandarbeit stellt ein Porträt des Teams des Kunstmuseums Stuttgart dar. Sie ist Abbild vieler Hände, die gemeinsam den Museumsbetrieb erst ermöglichen. Sie verweist auf Aktivitäten, die in der Regel hinter den Kulissen stattfinden und von der Kunstbetrachtung ferngehalten, ja gar negiert werden. Denn beim Museumsbesuch herrscht üblicherweise ein Berührungsverbot, das primär die Kunstwerke betrifft, sich allerdings in einem generell zurückhaltenden Habitus als Verhaltensregel etabliert hat.
Für Katrin Ströbel ist das Thema »Berühren« im Museum vor dem Hintergrund institutionalisierter Rahmenbedingungen relevant; es hat allerdings durch die Corona-Pandemie nochmals eine viel weitreichendere Brisanz erhalten. Der Bedeutungsraum des Berührens bzw. Nicht-Berührens hat seit dem Frühjahr 2020 vielfältige Neudefinitionen erfahren. Unser Verhältnis zum Anfassen von Oberflächen, Gegenständen, Lebewesen und Mitmenschen hat sich deutlich gewandelt. Ströbel rückt diese teilweise offenkundigen teilweise schleichenden Veränderungen mit ihrer Arbeit in den Fokus.
Das symbolische Potenzial von Handgesten verdeutlichen auch die 14 gerahmten Zeichnungen, die in thematischen Gruppen auf der Wand platziert wurden. Sie geben taktile Momente wieder, die zum Beispiel auf Fotografien historischer Ereignisse und auf Kunstwerken aus der Sammlung des Kunstmuseums festgehalten wurden. Dabei stellt sie Hände von Personen und Personengruppen ins Zentrum ihrer Zeichnungen, die häufig marginalisiert, wenig oder gar nicht sichtbar sind, und deren Hände, Gesten und Tätigkeiten doch auf vielerlei Weise in die Geschichte der Stadt eingeschrieben sind. So zeigt ein Blatt die Hände Charles de Gaulles, wie sie einige Wochen nach der Befreiung Stuttgarts einem marokkanischen Soldaten einen Orden verleihen. Die Zeichnungen sind begleitet von kurzen handschriftlichen Kommentaren der Künstlerin. Diese Verbindung von Wort und Bild sowie die damit einherge-hende Frage nach der Wirkungsmacht beider Kommunikationsmedien ist ein roter Faden im Œuvre der Künstlerin.
Katrin Ströbel wurde 1975 in Pforzheim geboren. Sie lebt und arbeitet in Marseille und Stuttgart. Nach einem Studium der Freien Kunst an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart sowie der Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart promovierte sie im Fach Kunstwissenschaft an der Universität Marburg. Seit 2013 lehrt die Künstlerin an der Villa Arson, école nationale supérieure d’art in Nizza.
Katrin Ströbels Arbeit »Vom Berühren und Begreifen« wurde im Januar 2021 realisiert. Eine Publikation, die die zahlreichen ortsspezifischen Arbeiten der Künstlerin dokumentiert, ist in Arbeit.
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