Lippen- und Gesichtstumore: Mit richtiger Diagnostik Operationen vermeiden
Zu Beginn der Coronapandemie – und möglicherweise auch bald wieder im Kontext der 3. Coronawelle – waren auch dermatologische Kliniken gezwungen, sich auf dringliche operative Eingriffe zu beschränken, um personelle und ausstattungstechnische Kapazitäten für an COVID-19 erkrankte Patienten verfügbar zu machen. „In besonderem Maße war hiervon die Indikationsstellung auf dem Gebiet der Hautoperationen betroffen, die rein von der Anzahl her die häufigsten Operationen betreffen“, erklärt Professor Dr. med. Roland Kaufmann, Direktor der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie am Universitätsklinikum Frankfurt und Past-Präsident der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG). Es galt also, in einer noch differenzierteren Art und Weise als sonst bei jedem einzelnen Fall ‚klug‘ zu entscheiden. Das Fach Dermatologie ist dual ausgerichtet: Es bietet auf der einen Seite eine konservativ-lokale wie systemisch-medikamentöse Therapie und auf der anderen Seite operative Behandlungstechniken. Das Abwägen nach erfolgter und gesicherter Diagnose gehöre jedoch nicht erst seit Corona zum Alltag von Dermatologinnen und Dermatologen, so der DDG-Past-Präsident.
Besonders gut veranschaulichen kann man dies auf dem Gebiet der Tumortherapie im sensiblen Bereich der Kopfhautregion an Gesicht und Lippen. Hier spielen bei der Wahl der Therapie funktionell-ästhetische Aspekte eine wichtige Rolle. So profitieren Dermatologinnen und Dermatologen aktuell in besonderem Masse von einem Prinzip des „klug entscheiden“. Es basiert auf einer sorgfältig gestellten differentialdiagnostischen Einordnung der jeweiligen Hautläsion und damit auf einer sachgerechten Abwägung verfügbarer konservativer und/oder operativer Behandlungsalternativen. Anders sei eine korrekte Indikationsstellung für einen operativen Eingriff nicht zu gewährleisten, so Kaufmann.
Das Keratoakanthom beispielsweise ist ein epidermaler Tumor, der sich bevorzugt im Gesicht oder am Kopf (also an sonnenexponierten Hautarealen) bildet, schnell wächst und sich auch spontan zurückzubilden kann. Der kraterartige Tumor, aus dem ein Hornkegel herauswächst, wird meist bei Menschen über 60 Jahren diagnostiziert. „Herausfordernd ist beim Keratoakanthom, dass es dem bösartigen Plattenepithelkarzinom (Spinaliom) ähnelt“, erklärt Kaufmann. Differenzialdiagnostisch sei die Abgrenzung zum Plattenepithelkarzinom zudem nicht einfach, da sie sich von außen betrachtet und histopathologisch ähneln. Weil das Keratoakanthom so schnell wachse, werde es nicht selten unter der Diagnose eines Plattenepithelkarzinoms leitlinienkonform mit Sicherheitsabstand operativ entfernt, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass es zu einer bösartigen Weiterentwicklung kommt. Für den DDG-Experten ist das nicht der richtige Weg: „Klinisch-pathologische Fehleinschätzungen von Tumoren führen zu unnötigen Über-Operationen mit der Notwendigkeit ausgedehnter plastischer Rekonstruktionen, wo es einfache Verfahren oder konservative Therapien ebenfalls getan hätten.“ Mit Hilfe einer speziellen Gewebeprobe (Querschnittsbiopsie) könne man das Keratoakanthom auch feingeweblich gut von einem bösartigen Lippenkarzinom abgrenzen und die richtigen Weichen stellen. Dann lassen sich beispielsweise durch Injektionen oder wenig ausgedehnte Operationen die Funktionalität und Integrität der Lippe erhalten. Therapien sollten nicht durch die Verfügbarkeit einer speziellen Technik, sondern durch den Sachverstand bei Diagnosestellung gesteuert werden – das mache ‚klug entscheiden‘ aus, fasst Kaufmann zusammen.
Die Initiative „klug entscheiden“ hat die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) nach us-amerikanischem Vorbild (‚choosing wisley‘) vor gut fünf Jahren in Deutschland gestartet. Ziel ist es, diagnostische und therapeutische Maßnahmen evidenzbasiert zu identifizieren, die entweder zu selten (Unterversorgung) oder zu häufig (Überversorgung) ergriffen werden. „klug entscheiden“ ist also eine Qualitätsoffensive, zu der zahlreiche Fächer bereits ihre Empfehlungen für „Dos and Don’ts“ geleistet haben.
„Wir Dermatologen handeln im beruflichen Alltag sehr häufig nach der Devise ‚klug entscheiden‘ –
auch als Fachgesellschaft berücksichtigen wir das in unseren Leitlinien “, erklärt Professor Dr. med. Peter Elsner, Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG). Auch in der Dermatologie fänden sich Indikationen, die auf den Prüfstand sollten, um im Falle einer Unterversorgung zu einer Positivempfehlung zu kommen, bzw. zu einer Negativempfehlung, wenn der Nutzen der durchgeführten Maßnahme wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden kann.
Weitere Informationen:
Sammelband Klug Entscheiden 2021. Deutsches Ärzteblatt Hefte 13 (2016) – 12 (2021) April 2021.
Die Deutsche Dermatologische Gesellschaft (DDG) e. V. ist die wissenschaftliche Fachgesellschaft der deutschsprachigen Dermatologinnen und Dermatologen. Als eine gemeinnützige Organisation mit mehr als 3.800 Mitgliedern fördert sie Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Dermatologie und ihrer Teilgebiete. Die DDG setzt sich für die Förderung der klinischen und praktischen Dermatologie, Allergologie und Venerologie sowie ihrer konservativen und operativen Teilgebiete ein. Mit der Durchführung von wissenschaftlichen Veranstaltungen und Kongressen engagiert sie sich in der Fort- und Weiterbildung, sie entwickelt Leitlinien und unterstützt Forschungsvorhaben durch Anschubfinanzierungen und Förderungen. Darüber hinaus vergibt die DDG zusammen mit der Deutschen Stiftung für Dermatologie Forschungsgelder und Stipendien an vielversprechende Nachwuchsmedizinstudierende und an namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
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