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Die Chance der Toleranz, Angst im All und ein Wunder in einer wunderarmen Zeit – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Historische Romane haben ihren ganz eigenen Reiz, erlauben sie es doch, auf den Flügeln der Literatur in frühere Zeiten zu reisen und ganz andere Menschenschicksale kennenzulernen. Wie mögen zum Beispiel die Leute zu Zeiten von Napoleon gelebt und geliebt und gekämpft haben? Antworten darauf gibt das fünfte und damit letzte der insgesamt fünf aktuellen Sonderangebote des heutigen Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 29.10. 21 – Freitag, 05.11. 21) zu haben sind. In „Das Mirakel von Bernsdorf“ von Elke Nagel (Willkomm) lernen wir einen Offizier der Armee Bonapartes kennen, der allerdings in Wirklichkeit kein Franzose ist …

Zwei Monate lang war Waldtraut Lewin für ihr aufschlussreiches Reisebuch „Waterloo liegt in Belgien“ unterwegs. Aber war sie auch wirklich in Waterloo?

Wenn historische Romane gewissermaßen zurückblicken, so erlauben Utopische Romane den Blick voraus, mitunter weit voraus. Das gilt auch für die beiden Wissenschaftlich-fantastischen Romane von Alexander KrögerSieben fielen vom Himmel“ und „Expedition Mikro“. In seinem literarischen Debüt von 1969 gelingt sieben Astronauten nach der Havarie ihres Mutterschiffs zunächst eine Rettung, aber damit sind ihre Schwierigkeiten noch lange nicht vorbei. EDITION digital präsentiert „Sieben fielen von Himmel“ übrigens in der Originalfassung.

Ganz andere Probleme haben dagegen die Helden in „Expedition Mikro“: Sie suchen nach ihren Gefährten, die in jener seltsamen Welt verschollen sind, die sie so schwer begreifen können. Und fast scheint es, als könnte auch ihre neue Expedition scheitern: Wie ein gewaltiger Trichter öffnet sich vor ihnen der Schnabel des Riesenvogels, und ihr Hubschrauber verschwindet in dem unermesslichen Schlund. Haben sie überhaupt eine Chance? Von der Antwort auf diese Frage hängt viel ab, sehr viel … – alles.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Erneut steht ein Buch eines wahren Jahrhundertzeugen im Mittelpunkt, an dessen Biografie sich die ganze Unmenschlichkeit des 20. Jahrhunderts nachvollziehen lässt, aber auch Menschlichkeit, Hoffnung und Solidarität sichtbar werden. Und für die Gegenwart lässt sich daraus die Warnung ableiten, nicht wegzuschauen und den Anfängen zu wehren. Auch wenn sie mitunter kaum bemerkbar sind.

Erstmals 1957 veröffentlichte Walter Kaufmann im Verlag Neues Leben Berlin seinen Roman „Wohin der Mensch gehört“: Über die sorgenfreie Kinderzeit, die Stefan, Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts, in seinem Elternhaus verbringt, fallen unheilvolle Schatten. Die grausame Reichspogromnacht wird dem Jungen zum bestimmenden Erlebnis. Der Sechzehnjährige flieht aus Deutschland, und die bitteren Jahre des Exils bedeuten für ihn Jahre der Bewährung. Wie der „Staatenlose“ in Holland umherirrt, wie er zweifelt und fehlt, wie er voller Erwartung von England nach Australien gelangt und welche Fülle von Erlebnissen und Begebenheiten der neue Kontinent für ihn birgt, davon erzählt dieser Roman. Viele Menschen treten in Stefans Leben: Da ist Albert, der Freund aus Deutschland, der dem verzweifelten Emigranten beratend zur Seite steht, da sind Bill und Jack, australische Arbeiter, die ihm weiterhelfen, da ist vor allem Ruth, die Stefan in aufrichtiger Liebe auf seinem schicksalhaften Wege folgt. Hier der Beginn dieses berührenden Buches, das im Jahr der Übersiedlung von Walter Kaufmann in die DDR erschienen war. Er lässt die damalige unheilvolle Stimmung in Deutschland ahnen:

„Am folgenden Morgen regnete es tatsächlich. Die Regentropfen warfen tanzende Silberringe in die Pfützen. Sehr still war es auf der Straße wie immer an den Sonntagen. Alle Türen und Fenster waren vor der ersten feuchten Kälte dieses Winters fest verschlossen. Stefan sagte sich, dass jetzt nicht die Zeit sei, nach Georg zu suchen. Aber was er gestern erlebt hatte, machte ihm das Alleinsein unerträglich. Er schlüpfte aus dem Haus und rief die Jungen der Horde. Aber die Straße blieb verlassen.

Vor vielen Fenstern schwankten träge Fahnen, Stefan wusste, dass sie wegen einer bevorstehenden Wahl herausgehängt waren. Bei Landgerichtsrat Förster, bei Kolb, dem Getreidehändler; an den Häusern des Bankiers, des Glasfabrikanten, des Arztes und des Warenhausbesitzers wehte das kaiserliche schwarz-weiß-rot. An der schmucken Villa des Majors Amendt waren zwei Fahnen zu sehen, eine schwarz-weiß-rote und eine mit dem Hakenkreuz auf rotem Grund. In der konservativen Prinzenstraße wirkte diese Fahne wie eine Herausforderung, und nur am anderen Ende der Straße, wo Angestellte und kleinere Beamte wohnten, wehten aus Fenstern des Miethauses, in dem Fritz Falk und Paul Jäger lebten, noch zwei Hakenkreuzfahnen. Ihr Anblick verstörte Stefan, denn er wusste, was sie ihm verhießen. Er fing an zu begreifen, warum Frau Amendt ihn auf der Straße nicht beachtete und Major Amendt durch ihn hindurchsah, wenn er in seiner Reichswehruniform daherkam. Hans Amendt allerdings, ihr Sohn, war immer noch liebenswürdig, liebenswürdig aus schlechtem Gewissen, was indes nicht so weh tat wie die offene Feindseligkeit, die Fritz Falk unter dem Einfluss Paul Jägers manchmal an den Tag legte.

Als Stefan in die Horde aufgenommen worden war, hatte er sich mit dem gleichaltrigen Fritz angefreundet. Eine Zeit lang waren sie unzertrennlich gewesen; als Fritz von einer Schule in die andere wechselte und sie Klassenkameraden geworden waren, hatten sie sich allmorgendlich getroffen und waren gemeinsam zur Schule gegangen, hatten einander ihre Geheimnisse verraten und über vieles gesprochen. Plötzlich hatte Fritz begonnen, Stefan zu meiden. Vergebens hatte er auf ihn gewartet, ihn gesucht, nach ihm gerufen, bis schließlich Fritz schroff erklärt hatte: „Du brauchst gar nicht zu brüllen, ich gehe jetzt allein zur Schule.“ Ihre Freundschaft schien wie weggeblasen und lang zurückzuliegen.

Als er jetzt die beiden Hakenkreuzfahnen sah, eine aus Jägers Fenster und die andere aus Falks, packte ihn heftiger Groll auf Paul. Für einen Augenblick sah Stefan Paul Jäger deutlich vor sich: den schlaksigen Jungen mit dem weichlichen Gesicht, den wässrig blauen Augen und dem weißblonden Haar. Wenn er seine Hitlerjugend-Uniform anhatte, war er anmaßend. Ohne sie war er unterwürfig mit einem gemeinen Zug; er beschmutzte die Horde durch seine bloße Gegenwart.

Nie würde Stefan den Nachmittag vergessen, als alle Jungen in der Höhle gewesen waren und Paul das Foto einer nackten Frau herumgereicht hatte. Darauf war bedrücktes Schweigen eingetreten, während Paul über dem Bild gebrütet hatte, als wäre es lebendig. Dann hatte er sich zurückgelehnt, merkwürdig die Beine verdreht und tief geseufzt. Hinterher war er aus der Höhle gekrochen, und Franz Kolb, ihr Anführer, hatte gesagt: „Ekelhaftes Schwein! Wir sollten ihn loswerden.“

Stefan war froh, Paul lange nicht begegnet zu sein.

Er sah auf die Hakenkreuzfahne in Pauls Fenster, drehte um und ging im Regen allein die Straße zurück.

Im Schutz eines Hauseingangs rief er noch einmal nach der Horde. Er wartete, niemand erschien. Nach einer Weile ging er zu der Höhle und kroch hinein. Halbdunkel herrschte, leise hämmerte der Regen auf das Wellblech über ihm. Er setzte sich auf eine Kiste. Da fühlte er etwas Lebendiges neben sich, das atmete und kläglich wimmerte wie ein krankes Kind. Auf einem Jutesack lag ein kleiner Hund und sah ihn aus glänzenden Augen an. Nur in den Vertiefungen hinter den Ohren war sein struppiges Fell trocken. Da streichelte Stefan ihn vorsichtig, und wohlig drehte der Hund den Kopf von einer Seite zur anderen. Er hörte auf zu winseln und fing an, mit feuchter warmer Zunge Stefans Handgelenk zu lecken. Dann stand er auf und schüttelte sich, und Stefan fühlte leichte Spritzer auf seiner Hand und Kneifen von Zähnen.

„Hungrig, du Stromer?“, fragte Stefan.

Der Hund schien zu verstehen. Er kläffte eifrig und rieb sein struppiges Fell an Stefans Bein.

„Ist gut, ist gut, ich besorge dir was.“

Stefan ging aus der Höhle, und der Hund folgte ihm, schnupperte und begann am ganzen Leibe zu zittern.

„Dann komm mit, du lauter Haut und Knochen!“, sagte Stefan.

Wie ein Dieb schlich Stefan durch den Hintereingang in die Küche; es war niemand da; er nahm ein paar Stücke Fleisch aus der Speisekammer und gab sie dem Hund. Der Hund schluckte gierig, trotzdem hörte er Hildes Schritt eher als Stefan. Er bellte leise, Stefan nahm den Hund in die Arme und floh mit ihm in die Höhle zurück. Die verräterischen Tapfen von den Hundepfoten aber und von Stefans Absätzen blieben auf den Fliesen des Küchenfußbodens.

Kaum hatte er den Hund in der Kiste auf den Sack gebettet, als er Hilde rufen hörte. Er drückte den Hund fest an sich und meldete sich nicht. Sie warteten ab. „Stefan! Stefan!“, rief Hilde.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.

Erstmals 1985 erschien im Verlag Neues Berlin „Waterloo liegt in Belgien. Ein Reisebuch“ von Waldtraut Lewin: Belgien? Ein paar Städtenamen, Brüssel, Bruxelles – Zweisprachigkeit. Hauptquartier der Nato, vielleicht noch Manneken Pis … Wie ist dieses Land wirklich? Zwei Monate lang ist Waldtraut Lewin in Belgien gewesen. Sie wohnt in Brüssel, besucht die Städte Brügge und Leuven, Gent und Toumai, Ostende und Antwerpen, besichtigt die Burg Gottfrieds von Bouillon. Sie schildert ihre Eindrücke von berühmten Gemälden in reich ausgestatteten Museen und ist dem Ursprung des Jugendstils auf der Spur. Und sie lernt die Belgier kennen, Flamen und Wallonen, deren Auseinandersetzungen bis weit in die Historie reichen. Bei der Begegnung mit Künstlern und Studenten, mit Leuten verschiedener Schichten beeindruckt sie der Friedenswille in einem Land, das über Jahrhunderte Schlachtfeld Europas war. So macht sie sich auch auf den Weg nach Waterloo. Doch je näher sie dem Ziel kommt, desto enttäuschter ist sie: „… die Büste Napoleons in jedem Trödelladen an der Straße, in weißem Marmor, die Locke unterm Dreispitz hervorkriechend … Ich stand kurz vor Waterloo. Ich bin umgekehrt.“ Hier eine Café-Skizze, in der man schon viel über das fremde Land und seine Leute erfahren kann:

Moncafé

So heißt mein Café in der riesigen, glasüberdachten Saint-Hubertus-Passage, wo man auch bei Regen draußen sitzen kann oder drin in zwei Abteilungen, um entweder aus dem Fenster in die Passage zu schauen oder von der Galerie auf die, die aus dem Fenster auf die Passage schauen, wo der Kaffee nur dreißig Franc kostet und das Weißbrot mit Käse auch, und wo man den Kuchen mit Messer und Gabel isst.

Die kleine, freundliche und dunkel getäfelte Gaststätte ist offenbar eine Goldgrube und in belgisch-italienischem Familienbesitz. Die italienische Art der Geschäftsführung hat sich gleich ausgebreitet. Alle arbeiten mit. Sie steht hinterm Tresen, ihr Vater leitet die kleine Küche (es gibt nur ein begrenztes Speisenangebot), Schwester und Bruder arbeiten ebenfalls im Hintergrund. Der dunkellockige Ehemann und sein ebenfalls angenehm aussehender Bruder servieren mit Schnelligkeit, Eleganz und höflichem Charme.

Mir hat es besonders der Mann der Chefin angetan. Ich setzte mich immer in seinen Tischbereich, und er weiß bereits, dass ich den Kaffee mit zwei Stück Zucker trinke. Diensteifrig klärt er mich auf über die Veranstaltungen des Marionettentheaters, dessen Plakate sein Café schmücken, und Madame hinterm Tresen macht schon einen langen Hals – aber Gnädigste, ich bin doch bloß Kundschaft, zu der man höflich ist!

Von allen Spielarten belgischen Seins sagt mir diese am meisten zu: die hierorts so ohne Aggressionen und Verkrampfungen getätigte Symbiose von Alteingesessenen und Neuankömmlingen, von Blond und Dunkel, und ich freue mich immer wieder, wie gern sich die Leute von hier belehren lassen über andere Lebensformen, ohne sich von den ihren zu trennen. In der Toleranz des gemeinsamen Weges hat dies Land eine Chance für alle.

Andererseits: Wozu braucht man Ausländer, wenn man im eigenen Land die schönsten Möglichkeiten hat, sich abzureagieren. Wallonen gegen Flamen, Katholiken gegen Protestanten, da bleibt es doch alles in der Familie, und wenn man wirklich über die Landesgrenze hinaus will, gibt es ja auch noch die Holländer, gegen die man einen jahrhundertelang gut gemästeten Groll hegt, dergestalt, dass man zum Beispiel in der Finanzwelt ein großes Geschäft erst einmal reihum in der Welt anbietet, von USA bis Japan, ehe man sich zögernd an die niederländischen Nachbarn wendet.“

Erstmals 1969 veröffentlichte Alexander Kröger als Band 86 der Reihe „Spannend erzählt“ im Verlag Neues Leben Berlin sein literarisches Debüt „Sieben fielen vom Himmel. Wissenschaftlich-phantastischer Roman“. Dem E-Book liegt die Originalausgabe von 1969 zugrunde. Es wurde lediglich auf neue Rechtschreibung umgestellt: Sieben Astronauten gelingt es nach der Havarie des Mutterschiffes, sich auf einen Planeten, den sie ‚Hoffnung‘ nennen, zu retten. Doch dort müssen sie mitten im Dschungel überleben. Die technisch hochstehenden Bewohner der Welt, die ihnen vielleicht helfen könnten, sind zunächst nicht zu finden. Doch wer sind eigentlich diese Astronauten? Hier der Anfang dieses spannenden Buches:

1. Kapitel

Langsam kroch die Kälte in alle Räume. Zunächst war sie in den Arbeitsräumen spürbar, breitete sich dann aber rasch bis zur Mitte des Schiffes aus, bis sie schließlich alle Lebewesen den eisigen Hauch eines ewigen Schattens ahnen ließ.

Min kauerte auf ihrer Liege. Sie fror.

Sie fror schon seit Stunden, schon seit sie wieder in ihrer Kabine war und obgleich zu diesem Zeitpunkt das Thermometer noch die normale Bordtemperatur anzeigte.

Sie lag bereits einige Zeit, als die Heizaggregate abgeschaltet wurden. Ausruhen sollte sie, sie und die anderen – bis auf den Wachhabenden.

Wenn ich doch einschlafen könnte. Schlaf täte wirklich gut, überlegte Min. Die letzten Tage boten wenig Gelegenheit dazu. Oder bewegen müsste ich mich. Min gab den Gedanken sogleich wieder auf. Vielleicht ist ohnehin bald alles vorbei …

Sie starrte an die gegenüberliegende Wand der Kabine und zuckte nur leicht zusammen, als das Hauptlicht erlosch. Im Schein der Notbeleuchtung wirkte die Zweckeinrichtung des Raumes kalt, gespenstisch. Min lächelte. Es wird angenehmer sein, dachte sie, wenn es in den letzten Stunden nicht so hell ist. Dann richtete sie sich mit einem Ruck auf.

Ist es überhaupt gerechtfertigt, dass ich resigniere? Ich lebe, und mit mir noch sechs. Der Kommandant und die Ingenieure sind zuversichtlich. Und gerade Chalo! Er hätte Grund, niedergeschlagen, ja sogar verzweifelt zu sein – aber gerade er ist es, der uns aufmuntert, uns Hoffnung gibt.

Schluss mit den Grübeleien! Min stand auf. Es sind noch Analysen zu machen. Chalo wird verstehen, dass ich nicht ruhe, nicht ruhen kann, dass ich auch nach dem Dienst noch arbeiten möchte.

Aber – ob es wirklich noch einen Sinn hat? Sind tatsächlich die anderen so zuversichtlich, oder geben sie sich nur so? Habe nur ich diese unbestimmte Angst vor dem Kommenden?

Unsinn! Eines Tages werden die Unsrigen unsere Spur finden. Und schon dafür lohnt es sich, alles zusammenzutragen, was nur möglich ist.

Min betrat den Kommandoraum. Chalo blickte auf.

„Nanu, Min“, sagte er, „du müsstest doch schlafen.“

„Ja“, antwortete sie. „Bitte, Chalo, ich weiß, dass du auch nicht immer schläfst, wenn du frei hast. Und ich könnte noch einige Analysen machen. Die Stürme gestern gingen bis in die Hochatmosphäre. Vielleicht gelingt mir eine genauere Aussage über die Bodenbestandteile der Wüstengebiete.“

„Es ist doch zu kalt“, sagte Chalo.

„Es wird schon gehen“, sagte Min., „In den Kabinen ist es auch ungemütlich – dazu das trübe Licht.“

„Ich denke, dass die Heizanlagen in einigen Stunden repariert sein werden", sagte Chalo nach einem Blick auf den Zeitautomaten.

Min trat an ein Bordfenster und sah hinaus. Schwarze Nacht. Wie weißglühende Funken gleißten die Sterne.

Ob einer unsere Sonne ist? Sie blickte flüchtig zum Kursanzeiger, ging, ohne dessen Angabe zu erfassen, zum nächsten Fenster und legte den Kopf an die Scheibe. In ihren Augen erglomm ein rötlicher Schein. Min blinzelte. Nur langsam überwand sie die Blendung. Unverändert das Bild des Planeten: riesige Wüsten, lang gestreckte Gebirgsgrate, aus der Entfernung, wie mit dem Lineal gezogen, öde, einförmige blaugrün-graue Flächen.

Und du gabst uns Hoffnung, hast uns, nur weil du ein wenig Sauerstoff in deiner Atmosphäre hast, annehmbare Lebensbedingungen vorgegaukelt und empfängst uns mit Sandstürmen und Dürftigkeit. Nein, du bekommst uns nicht. Lieber bleiben wir hier im Schiff …

Chalo trat neben Min an das Fenster.

„Traurig?“, fragte er.

„Nein“, antwortete sie. „Ich habe ein wenig Angst, Chalo.“

Chalo schwieg. Er schaute mit hinüber zu der leuchtenden Scheibe. Dann sagte er leise: „Wenn wir dort gelandet wären, Min, wie wir ursprünglich wollten, dann müssten wir fürchten, dass weder wir uns selbst noch dass andere uns retten könnten. Aber jetzt – es ist alles vorbereitet. Wir haben die Chance zu leben. Der Dritte Planet, nicht der Vierte, bietet Leben. Du weißt das! Und sind wir nicht besser dran als unsere Gefährten von der J 2? Wir haben eine Hoffnung, aber sie?“ Chalo blickte starr aus dem Fenster. „Ob sie überhaupt leben?“, fügte er leise, wie zu sich selbst, hinzu.

Min schaute geradeaus. Sie wusste, dass sich der Mann neben ihr schon tausendmal diese Frage gestellt hatte, dass er dabei an seine Gefährtin dachte, die mit siebenundzwanzig Kameraden und dem interstellaren Schiff, der stolzen J 2, verschollen war. Und Min kam sich in diesem Augenblick mit ihrer Angst und ihren Zweifeln kleinmütig vor angesichts des stillen Schmerzes Chalos, der trotz persönlichen Leids anderen den Glauben an die Zukunft erhielt.

Chalo gab sich gleichsam einen Ruck, schaute Min an und sagte sachlich: „Ich habe übrigens erst vorhin mit Mangk noch einmal alles Für und Wider durchgesprochen. Wir wollen nun doch versuchen, eine Lastkabine mitzunehmen. Überleg dir schon, welche Dinge du mit hineingibst. Bedenke aber auch, dass bei dieser Kabine das Landerisiko größer ist als bei den Unsrigen.“

Min blickte auf. „Und du meinst, dass in den fast hundertvierzig ER, die wir zum Planeten Drei unterwegs sein werden, nichts in unseren Weg kommt? Eine einzige Kurskorrektur, ein Ausweichmanöver, und wir sind ein Satellit der hiesigen Sonne.“

„Nanu – hat die Jugend kein Vertrauen mehr?“ Chalo lächelte jetzt. „Die schlimmste Wegstrecke dürften wir hinter uns haben. Vom Fünften Planeten bis hierher haben wir zweiunddreißig Planetoiden geortet. Zwischen dem Planeten hier und dem Dritten, unserem Ziel, bisher keinen einzigen!“

„Weißt du, Chalo, was ich denke? Ob nicht die J 2 mit solch einem Brocken kollidierte? Sie befand sich zwar, von hier aus gesehen, jenseits des Fünften. Aber ganz frei war dort der Raum auch nicht. Vielleicht waren wir auf der Parkbahn zu sorglos geworden?“

Chalo schwieg. Er starrte auf die Planetenoberfläche, als suche er in den öden Gebirgen und Wüsten etwas Bestimmtes.

„Warum, Min, haben wir dann nichts von ihnen gefunden? Gar nichts! Ich habe mir diese Frage oft gestellt. Es war unser größtes Schiff. Das kann nicht einfach verschwinden. Wir hätten wenigstens – Trümmer finden müssen.“

„Wir kamen zu spät“, sagte Min.

„Dennoch“, erwiderte Chalo, „so weit reicht unser Radar. Es sei denn“, Chalo zögerte, „die J 2 hat mit der höchsten Stufe beschleunigt – aber warum sollte sie das? Und warum funkt sie nicht?

Lassen wir das, Min, unsere Fragen kann zurzeit niemand beantworten. Nimm dich bitte Surkis an. Sie scheint mir am niedergeschlagensten zu sein“, fuhr Chalo fort. „Ich erinnere mich an meinen ersten Flug. Es war kein interstellarer, und doch begleitete mich ständig eine Art Angst, obwohl alles normal verlief. Surki, unsere jüngste, wird gleich auf eine wesentlich härtere Probe gestellt. Wir müssen ihr helfen!“ Wieder änderte Chalo den Tonfall. Beinahe dozierend sagte er: „Es besteht wirklich kein Grund zu Unruhe oder – Angst, Min. Wir haben Glück. Wir schneiden dem Dritten Planeten den Weg ab. Unsere Energie reicht daher bis in seine Nähe, jedenfalls bis in seinen Anziehungsbereich. “

Erstmals 1976 erschien im Verlag Neues Leben Berlin als Band 128 der Reihe „Spannend erzählt“ der Wissenschaftlich-fantastische Roman „Expedition Mikro“ von Alexander Kröger. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2010 im Projekte Verlag Cornelius GmbH Halle veröffentlicht worden war: Wie ein gewaltiger Trichter öffnet sich vor ihnen der Schnabel des Riesenvogels, und ihr Hubschrauber verschwindet in dem unermesslichen Schlund. Entsetzt blickt Gela Nylf auf die Gefährten, die sich im bleichen Licht der Kabinenbeleuchtung zu orientieren versuchen. Wird auch diese Expedition misslingen, nachdem schon ihre Vorgänger in jener seltsamen Welt verschollen sind, die sie so schwer begreifen können? Gela denkt an Harold, der die vorige Expedition leitete und nie zurückkehrte. Hat er die sagenhaften Wesen getroffen, die mitunter wie wolkige Schemen am Horizont aufgetaucht sind? Ist der Kontakt mit ihnen tödlich, oder wird er die ersehnte Hilfe bringen?

Die Hubschrauberbesatzung tut alles, um aus dem fliegenden Gefängnis freizukommen. Die Expedition darf nicht scheitern, denn zu viel hängt von ihrem Erfolg ab: die Existenz auf der kleinen Insel inmitten des Ozeans, die Heilung der Krankheit, die dort grassiert, die Rettung vor den bedrohlichen Naturgewalten … Und so stellen sich Gela Nylf, Chris Noloc und die anderen immer neuen Gefahren und Abenteuern. Hier der Anfang der Expedition:

1. Kapitel

„Und ich sage dir, dass wir die Gefahr für uns alle nur vergrößern, wenn wir wieder nach Hause aufbrechen!“, äußerte sich Gela Nylf ärgerlich. Sie strich mit den Fingern der linken Hand über die Tischkante. Ihr Gesicht war gerötet, die Augen kniff sie zusammen, die hohe Stirn zog Falten. Sie blickte an ihrem Gegenüber vorbei, dem Biologen Charles Ennil. Er wiederum bemühte sich, sie nicht voll anzusehen. Gela schielte ein wenig, fast unmerklich. Ihr Blick hatte dadurch nicht jene musternde Schärfe, und ihre Partner konnten leicht den Eindruck gewinnen, sie sei nicht ganz bei der Sache. So empfand im Augenblick auch Charles.

„Es gab auf der Fahrt hierher im Grunde genommen keine echte Gefahr“, entgegnete er verächtlich. „Was soll unserem Schiff passieren! Dreimal haben uns diese Salmons und die anderen Fische geschluckt, und was war? Außer dass die Scheiben ein wenig blind geworden sind und wir im Übrigen die Orientierung verloren haben, geschah doch nichts! Aber wenn wir hier bleiben …“ Den Satz vollendete er nicht. Es war jedem der Anwesenden klar, was er damit sagen wollte.

Gela senkte den Blick. Sie spürte wieder den Schauer über ihren Körper laufen wie damals, als dieses Meerungeheuer das Schiff verschlang. Dann tagelang die Finsternis um sie herum, das Schiff eingeschlossen von zersetzten Tierleibern und Pflanzenresten.  Würden diese Biester nicht alles, was sie greifen, hinunterwürgen, sondern kauen, wir wären jetzt … Und wer sagt, dass es nicht welche gibt, die kauen? Der Ozean wimmelt von solchen und noch größeren Ungeheuern geradezu. Und da sagt dieser Charles: „Da war doch nichts!“ Natürlich hat er insofern recht: Außerhalb des Schiffes werden die Gefahren größer sein.

„Nun, machen wir Schluss mit der Diskussion!“ Robert Tocs hatte es energisch gesagt. Er sah unter seiner auf die Stirn geschobenen Brille hervor den Biologen zwingend an. „Außer dir, Charles, sind alle dafür, dass wir auch unter diesen Umständen die Aufgabe erfüllen. Ich weiß, dass es schwierig und vielleicht auch opferreich sein wird. Aber schließlich war uns das von Anfang an bewusst.“

„Aber …“, warf Charles ein.

Robert Tocs erhob nur ein wenig die Stimme und fuhr ungeachtet des begonnenen Einspruchs fort: „Charles, ich bin mir sicher, dass es nicht etwa Angst ist, was dich so sprechen lässt. Dafür kenne ich dich zu gut. Du denkst vor allem an uns neunundzwanzig Übrige. Das ehrt dich natürlich. Aber von Gela, unserem Küken, hast du eben gehört, was sie von deiner Fürsorge hält. Es entspricht unser aller Ansicht. Also: Morgen startet eine Exkursion ins Landesinnere und erkundet einen Stützpunkt.“ Tocs’ Blick ging über die Köpfe. Jens Relpek, der Physiker, blickte aus wasserklaren Augen zurück. –  Nein, er ist zu weich, zu gründlich auch. Er würde lange wägen bevor er sich entscheidet – auch dann, wenn es auf die Sekunde ankommt. Gela – zu unerfahren, sie also noch nicht. Sie brennt sicher darauf, aber es wäre falsch. Charles ist für die Leitung der Exkursion vorgesehen. Aber jetzt, nach seinen Bedenken? Bei ihm besteht auch die Gefahr, dass er zu tief ins Fachliche gleitet, im Registrieren und Eingruppieren das Leiten vergisst. Chris, sieh nicht so herausfordernd her. Ich weiß, dass du dazu einmal fähig sein wirst, noch bist du mir aber zu draufgängerisch, bringst womöglich deine Begleiter unnötig in Gefahr. Mieh, den Arzt, kann ich nicht von hier fortlassen. Er muss für die Mehrheit da sein. Carol, seine Frau, wird die Exkursion begleiten. Leiten kann sie sie nicht. Wer also? – Ich! Das wäre gegen Vernunft und Instruktion …

Wieder machte Roberts Blick die Runde. Dann entschied er: „Charles wird die Exkursion leiten. Ihr fliegt mit dem kleinen Helikopter. Die Mannschaft stellst du dir selbst zusammen, Charles. Ich danke!“

Bevor das Leitungsteam die Brücke verließ, kam Charles Ennil der Aufforderung des Kommandanten nach und benannte die Teilnehmer der Expedition.

„Chris, bleib du noch …“, forderte Robert. Er trat an die große Rundsichtscheibe und starrte nach draußen. Die Scheinwerfer waren gelöscht. Das Stück Himmel über ihnen lag in einem fahlen Schein. Nur die großen Sterne durchdrangen ihn. Unmittelbar vor dem Schiff türmte sich die trostlose Geröllwüste. Kommandant Tocs lächelte. Er dachte an das schwierige Landemanöver.  Erst gebärdeten sich alle ungeduldig, als endlich Land in Sicht war, nur ich zögerte. Auch du, Chris, hast das zunächst nicht verstanden.  Robert hatte sich umgedreht und sah Chris, der gleich ihm am Fenster stand und in die Dunkelheit starrte, von der Seite her an.  Es war eben doch gut, eine besonders hohe Welle abzuwarten und dann mit voller Kraft aufzulaufen. So war es möglich, mein lieber Chris, gleich ein schönes Stück ins Land hineinzukommen, ohne dass uns das ablaufende Wasser wieder zurückzog. Endlich eine Aufgabe , dachte er stolz.  Diese nervtötende Seefahrerei, trotz der Ungeheuer – im Grunde genommen äußerst langweilig …

 Warum wohl Robert gezögert hat, als es um den Leiter der Exkursion ging? Schließlich stand Charles von vornherein dafür fest. Nun ja, seine Unkerei macht ihn ein wenig unglaubwürdig , dachte Chris; er bemühte sich im Schein der schwachen Brückenbeleuchtung draußen etwas zu erkennen. Geröll und aufgetürmte Haufen aus abgeschliffenen Steinen, dazwischen breite Kriechspuren von Tieren.  Ein normaler Küstenstreifen, fast gleich dem, der sich um unsere Insel zieht.

„Chris, ich habe Charles empfohlen, dich mitzunehmen“, erklärte Robert plötzlich und blickte in die Finsternis hinaus.

„Ja“, antwortete Chris. Er sah auf die dunkle Silhouette des Kommandanten. „Er hat mit mir gesprochen. Carol soll als Ärztin dabei sein und Karl als Pilot und Techniker.“

„Was sagst du zu Charles als Leiter?“, fragte Robert.

Chris überraschte die Frage. Eine Kritik oder auch nur Stellungnahme zu einer Entscheidung des Kommandanten stand ihm laut Reglement nicht zu. Er zuckte leicht mit den Schultern, dann sagte er zögernd: „Dass er auf Gefahren aufmerksam macht, halte ich nicht für falsch. Vielleicht hätte er sich dazu eine bessere Gelegenheit suchen sollen. Es ist nicht beispielgebend, wenn ausgerechnet der Leiter nochmals allgemein bekannte Schwierigkeiten aufzählt. Ansonsten: Er hat einen Blick für Neues, und er ist fachlich sehr beschlagen.“

„Er scheint mir ein wenig zerstreut …“, entgegnete Robert nachdenklich, doch dann schob er seine Bedenken beiseite. „Okay“, sagte er, und die Angelegenheit war für ihn wohl endgültig erledigt. „Ich finde es gut“, setzte er hinzu, „dass ihr Gela mitnehmt. Sie soll Erfahrungen sammeln.“

Chris fühlte, dass ihm das Blut zu Kopf stieg. Nach einer Weile sagte er: „Bitte sag du ihr das. Du weißt, es gibt ohnehin schon Geflüster.“

„Ich finde nichts dabei, wenn man jemanden na – sympathisch findet, so wie du Gela“, bemerkte Robert, und Chris erriet, dass er lächelte.

„Bloß wenn es nicht auf Gegenseitigkeit beruht, wirkt’s leicht komisch“, entgegnete Chris mit brüchiger Forsche in der Stimme. Er starrte weiter aus dem Fenster.

„Willst sie also nicht mithaben!“, stellte Tocs fest, und er sah schmunzelnd zu Chris hinüber.

„Doch, doch“, beeilte sich dieser zu antworten. Dann setzte er noch eifrig erläuternd hinzu: „Es geht wohl in erster Linie um die Sache. Und Gela muss anfangen!“

Jetzt lachte Robert. „Sprichst, als hättest du bereits fünfundzwanzig anstatt zwei ähnliche Einsätze hinter dir. Und die zwei waren im Küstenstreifen unserer Insel. Sie sind mit dem hier nicht vergleichbar. Übrigens, in dem Zusammenhang …“, Robert sah Chris jetzt voll an, „ … bist vorsichtig, ja?“

„Aber ja! Mir ist bislang noch nichts zugestoßen“, sagte Chris, und es klang ein wenig unwillig.

„Trotzdem“, entgegnete Robert. Dann fuhr er in verändertem Tonfall fort: „Ihr fliegt eine große Schleife, Kurs Südost, dann Südwest und zurück nach spätestens drei Tagen. Findet ihr einen geeigneten Platz, kehrt ihr sofort um! Der Stützpunkt sollte, wenn ihr Glück habt, möglichst in ihrer Nähe sein.“

Es entstand eine Pause.

Dann fragte Chris: „Du glaubst also daran? Ich meine, bist selbst davon überzeugt?“

Robert Tocs antwortete lange nicht, so, als müsse er sich die Antwort reiflich überlegen. Dann sagte er: „Nein!“ Und als Chris überrascht eine heftige Bewegung ausführte, fügte er lächelnd hinzu: „Ich glaube nicht nur, dass es sie gibt, ich weiß es.“´

Erstmals 1977 veröffentlichte Elke Nagel (Willkomm) im Verlag Neues Leben Berlin ihren spannenden, sehr gut recherchierten Historischen Roman „Das Mirakel von Bernsdorf“: Sie erkennen ihn nicht auf den ersten Blick, die von Bernsdorfs, als Michel Marten, Offizier der Armee Bonapartes, am Weihnachtsabend 1807 ihren Salon betritt. Vor Jahren war er der Gefährte der Bernsdorfkinder, er, der Enkel des Dorfpfarrers und illegitime Sohn des Barons.

Er entfloh jedoch der Perspektive, Dorfschulmeister zu werden, und schlug sich auf den Spuren seines „eigentlichen“ Vaters Heinrich Marten an der Seite der französischen Jakobiner durch. Er erlebte alle Höhen und Tiefen der Revolution, folgte Heinrich Marten aber nicht unter die Anhänger Babeufs, weil er ahnte, dass sich die Hoffnung auf das Bonheur Commune – das Glück des Volkes – nicht erfüllen würde. Er leidet unter seiner Inkonsequenz, vor allem, als er in seiner Heimat alte Freunde wiedertrifft, darunter Henriette von Bülow, die er liebte und die sich wie er von der Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit begeistern ließ. Sie, jetzt die Frau eines geachteten preußischen Beamten, sieht durch Michels Erscheinen ihre Hoffnung auf Veränderungen neu belebt.

Michel gewinnt das Vertrauen seiner Landsleute, als er bereit ist, für ihre Interessen gegenüber dem Baron einzustehen. Doch an der Spitze der Bauernerhebung macht er sich eines Vergehens gegen Befehle seines Generals schuldig, und alle wissen, dass nur ein Wunder ihn vor dem Tod retten kann. Hier der Vorspann und der Anfang dieses historischen Romans:

Vorspann

Eintragung im Kirchenbuch zu Bernsdorf (Königreich Preußen) vom 27. 12. 1807:

Ein Wunder ließ Gott geschehen in einer wunderarmen Zeit. Am heutigen 27. Dezember des Jahres 1807 geschah an uns allen und besonders an dem hierselbst anno 1773 geborenen Michael Jakob Mathias Marten ein Wunder Gottes.

Besagter Marten, der auf Befehl der französischen Militärbehörde am heutigen Abend acht Uhr durch Erschießen vom Leben zum Tode gebracht werden sollte, wurde am heutigen Vormittag, während die Gemeinde vollzählig in der Kirche versammelt war und von Gott ein Wunder erflehte, von einem Engel gen Himmel getragen, derart, dass in der fest verschlossenen Kammer nichts von ihm zurückblieb als seine Kleider und Stiefel, die in der gleichen Anordnung, wie er sie getragen, auf dem Strohsack liegend vorgefunden wurden. Der Herr hat uns ein Zeichen gegeben, ein sichtbares Zeichen. Wir werden uns seiner Gnade würdig erweisen. Amen.

Pfarrer zu Bernsdorf, Emanuel Kienast

  1. Kapitel

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Die Glocke. Hörst du, Jean-Pierre? Das ist sie. Etwas zu blechern, ich weiß. Aber sie ist es, meine Glocke, meine Kirche – was soll das, Jean-Pierre, Bruderherz, ich bin aufgeregt wie selten, ich rede, scheint mir, deutsch und hab doch all die Jahre nur französisch gesprochen, sogar gedacht … Nein, dies ist nicht Bernsdorf, sondern Alt-Grödern. Gehört aber zum Besitz derer von Bernsdorf. Komm schneller, Bruderherz. Dieser Hügel nur trennt Alt-Grödern von Bernsdorf. Von da oben kann ich dir zeigen, was ich dir schon oft beschrieben habe, komm!

Weißt du, was ich mir jetzt vorstelle? Michel Marten, der einst aus Bernsdorf fortlief, heimlich und bei Nacht, kommt als Offizier der Grande Armee zurück, und – da lässt der gnädige Herr von Bernsdorf die Kirchenglocken ziehen. Gut, was? Warum die Glocke läutet? Es ist doch Weihnachtsabend, Bruderherz. Jetzt kommen sie dort, hinter jenem Hügel, von der Christvesper. Sie gehen in ihre Katen. Und essen. Etwas Besonderes, lange Aufgespartes. Manchmal reicht’s sogar zum Sattwerden. Und der Küster geht mit den Schulkindern umsingen, durchs Dorf, zum Schloss … Mein Gott, Jean-Pierre, wie lange ist das her, dass ich dort die Glocke läutete. Den Blasebalg trat. Umsingen ging. Die Orgel spielte …

Welcher Teufel hat mich nur geritten, heute mit dir hierher zu kommen? Heimweh? Ja, da hast du wohl recht. Denn dieser Leutnant Bertrand, der dort letzte Woche ertrunken ist – ob verunglückt, ob nicht verunglückt -, ich sage dir, Jean-Pierre, das interessiert mich nicht im geringsten. Du musst es aufklären, deine Sache – bitte schön. Und ich, davon habe ich unseren General überzeugt, ich muss dir – als Ortskundiger, nicht wahr? – unbedingt helfen… Zum Teufel, worauf habe ich mich eingelassen! Hab nicht bedacht, dass diese Glocke bimmeln wird, das ist es. Was ist schon Besonderes daran, warum erregt es mich … Aber recht kräftig wird dort am Strang gezogen, scheint mir …

So, mon ami, nun müssen wir anhalten. Da. Das ist Bernsdorf. Siehst du – um die Kirche herum das Dorf. Pfarrhaus, Schulhaus. Der Teich. Die Trauerweiden. Die Tagelöhnerkaten. Fast keine Bauernhöfe, nein, Gutsdorf eines Barons, verstehst du nicht? Leibeigene, ein paar Büdner, vier Bauern, und auch die sind arme Schlucker. Wer weiß, ob’s noch vier sind. Und dort der Park, siehst du? Und das Schloss. Hofeinfahrt, hintere Seite, dem Dorf zugekehrt: preußischer Edelmannsstil. Dagegen die Vorderfront, Parkseite: Kleinsanssouci. Mit Terrassen, Freitreppe, Orangerie, Puttenskulpturen. Dann die gestutzten Bäume, die abgezirkelten Wege. Aber der untere Teil des Parks, bis hinunter zum See – das ist ein Paradies, Jean-Pierre! So verwildert! Und der See … Natürlich ist er für das Dorf verboten. Aber denk nicht, wir hätten dort nicht gebadet, schwimmen gelernt, Fische gefangen sogar!

Jean-Pierre Carnette, Offizier der Grande Armee, nickte und unterbrach den Redestrom des Freundes nicht. Er wusste, der redete sich das jahrelang aufgestaute Heimweh von der Seele, und er, Jean-Pierre, vergaß beim Zuhören das eigene Heimweh nach der Tischlerei des Vaters in Paris, nach dem Geruch frischer Bügelwäsche in Mutters Plättstube. Denn er sah nun den Freund, ein halb nacktes, schmutziges Kerlchen von acht Jahren, mager und behänd, mit dieser zu großen Nase und mit dem Helm aus strähnigen, ganz glatten, weißblonden Haaren.

Anscheinend ausgerissen ist dieser Bursche, denn er sichert wie ein flüchtiges Wild, bevor er sich aus den schützenden Zweigen der Trauerweide herausschiebt und hastig auf das Fliedergebüsch an der Schlossmauer zuläuft. Von dort aus späht er noch einmal zur Schule zurück, und da kein Verfolger in Sicht ist, geht er langsam und ohne besondere Vorsicht an der hohen Schlossmauer entlang zum See hinunter. Denn wenn Küster Jakob Marten, der Großvater, bis jetzt noch nicht gemerkt hat, dass er aus dem Fenster geklettert und „in die Welt“ gelaufen ist, dann ist er wieder einmal so sehr in seine Lektüre vertieft: – in Lessing oder Rousseau oder Forster oder Herder -, dass er das Verschwinden des Enkels frühestens gegen Mittag bemerken wird. Und petzen – das tun die übrigen Schüler nicht. Obwohl sie Michel Marten oft hänseln, wegen dieser großen Nase. Aber nicht nur ihn, ähnliche Nasen sind in Bernsdorf nicht selten. Zum Verpetzen ist das kein Grund.

Die Schlossmauer ist hoch, unendlich hoch für einen kleinen Jungen. Lang ist sie auch, aber keinesfalls unendlich. Wo sie aufhört, fängt der See an, der verbotene. Er ist hier schwer zugänglich: dichtes Gestrüpp, Sumpf, Schilf. Doch das stört einen eigensinnigen Michel Marten ganz und gar nicht. Er kauert schon nach kurzer Zeit auf einem ins Wasser gestürzten Baum im Wald aus Schilf und ist am Ziel seiner Wünsche: Durch den schwankenden grünen Vorhang kann er spähen, ungesehen, und sein Blick umfasst einen Teil des Sees und die breite, schilffreie Badestelle der Herrschaftskinder, derer von Bernsdorf, auch den Uferstreifen davor, planiert, geharkt sogar.

Nichts rührt sich heute hinter den hohen Parkbäumen. Er verbirgt seine Enttäuschung vor sich selbst. Bin ich denn hier, um die aus dem Schloss zu sehen? Wollte doch zum See, heraus aus der langweiligen, dunklen Schulstube …“

Und damit sind wir schon mitten drin in dieser spannenden Geschichte von Flucht und Heimweh, von heimlicher Rückkehr und dem unsicheren Gefühl, wie ihn die Leute in seinem alten Dorf aufnehmen werden – den französischen Offizier, der doch in Wirklichkeit kein Franzose ist. Gemeinsam mit Michel Marten, der inzwischen ebenso gut Französisch spricht wie Deutsch, erleben wir eine Epoche, in der sich wahrhaft geschichtliche Umbrüche ereigneten. Und obwohl das alles inzwischen schon mehr als 200 Jahre her ist, so gelingt es der Autorin des „Mirakel von Bernsdorf“, den Menschen dieser Zeit und ihren Schicksalen sehr nahe zu kommen.

Gleiches gilt auch für die anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters. Alle laden sie – wenn auch auf unterschiedliche Weise – zu Begegnungen mit Menschenschicksalen ein und vielleicht auch zum Nachdenken darüber, wie man sich selbst in diesen oder jenen Zeiten verhalten hätte …

Viel Vergnügen beim Leser und vielleicht auch beim Philosophieren über verschiedene Lebensentwürfe, einen erfolgreichen Sprung in den vorletzten Monat dieses Jahres, blieben Sie weiter vorsichtig, vor allem aber weiter schön gesund und munter und bis demnächst.

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