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Ein Sturz vom Pferd, eine Sozia und vom Glück, eine Zwillingschwester zu haben – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Nicht alles, was in Büchern steht, ist komplett ausgedacht. Oft hat es mit tatsächlichen Geschehnissen zu tun, die zumindest als Anregung und Hintergrund für die jeweilige Handlung dienen. Genau das gilt auch für das vierte der insgesamt fünf aktuellen Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 28.01. 22 – Freitag, 04.02. 22) zu haben sind. In seinem übrigens auch für Erwachsene spannend zu lesenden Kinderbuch „Das Steingesicht von Oedeleck“ verarbeitete Wolfgang Held die Geschehnisse um ein großes Grubenunglück in Westdeutschland, das sich dort vor nunmehr fast sechzig Jahren ereignet hatte.

Um einen weitgereisten Zirkusartisten und um einen sehr merkwürdigen medizinischen Eingriff geht es in dem Roman „Das Hundeohr“ von Herbert Otto.

Um einen Freund kämpft Heiko in „Jakob lässt mich sitzen“ von Joachim Nowotny. Denn sein großer Freund hat seit Neuestem ganz andere Gedanken im Kopf.

Gleich vier Fußballgeschichten erzählt Jan Flieger in „Der vertauschte Mittelstürmer. Elf Kicker im Fußballfieber“.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Diesmal steht das Thema Nachhaltigkeit im Mittelpunkt und zwar in dem Sinne, dass man nicht alles, was nicht mehr funktioniert, gleich wegschmeißt, sondern besser repariert – also das Gegenteil einer Wegwerfgesellschaft praktiziert – im Kleinen wie im Großen.

Erstmals 1978 veröffentlichte Joachim Nowotny im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig „Ein seltener Fall von Liebe. Erzählungen“: Liebe also. Und Geschichten. Demnach Liebesgeschichten? Ja, aber. Wie will man es nennen, wenn einer seinen Ehebruch beichtet? Etwa das Gegenteil einer Liebesgeschichte? Oder wenn einer seiner Einbildungskraft folgt und prompt im Bett eines wohlbehüteten Mädchens landet? Na also!

Oder wenn ein Alter sein – unser – Leben liebt, wenngleich ihm seine Freuden durch die geliebte defekte Kaffeemühle vergällt sind, worauf er keineswegs mit Liebeserklärungen reagiert. Wie bezeichnet man das unentwirrbare Bündel von Gefühlen Halbwüchsiger, denen Geschichten passieren, in denen (vielleicht zum ersten Male) Mädchen vorkommen, wie die Gemütsbewegungen eines Lehrers angesichts der Not seines Sorgenschülers? Darf man von Liebe reden, wenn einer, der zwar abseits wohnt, aber unter uns lebt, nicht weiß, dass er einem Damenstiefel tragenden Phantom verfallen ist? Und in diesem Zusammenhang von einer Geschichte, in der ein Dorfgastwirt alles, was er über den Fall weiß, der Kriminalpolizei erzählt. Es wird sich zeigen. Man lese.

Das Buch erlebte seit seiner Erstveröffentlichung mehrere Auflagen. Eine der darin enthaltenen Geschichten wurde bereits 1976 in der Regie von Ulrich Thein vom DDR-Fernsehen unter dem Titel „Ein altes Modell“ mit Erwin Geschonneck in der Hauptrolle verfilmt und erstmals am 27. Dezember 1976 und damit am 70. Geburtstag des berühmten Schauspielers ausgestrahlt. Die Hauptrollen in der literarischen Vorlage „Kleine Fische“ spielen Bruno und seine Frau Frieda, in der Fernsehverfilmung von 1976 übrigens gespielt von der ebenso beliebten Agnes Kraus, sowie eine alte Kaffeemaschine, die nicht mehr will – das alte Modell. Daher will sie Bruno reparieren lassen. Aber dieses Vorhaben erweist sich als ziemlich schwierig. Und das kommt so:

Kleine Fische

Gleich früh ist Stimmung in der Bude. Eine Zucht, schimpft Frieda. Kein Verlass auf die Mannsbilder. Bruno, auf den das gemünzt ist, tut nicht dergleichen. Er steht vor dem Spiegel, im Unterhemd, mit heruntergelassenen Hosenträgern, er rasiert die Stelle unterm Kinn. Die Stoppeln sind grau geworden in den Jahren. Weich geworden sind sie nicht. Und unterm Kinn hat er so einen Wirbel. Da muss er Ruhe bewahren. Außerdem: Wer wird gleich springen, wenn Weiber kaffern!

Friedas Atem ist kurz und stoßend. Sie kann nicht reden jetzt, nicht, bevor der Kaffee fertig gemahlen ist. Bruno streicht das Kinn, er hebt sich auf die Zehenspitzen, sieht Frieda im Spiegel, wie sie da sitzt auf dem Stuhl vor dem Küchentisch, die Mühle zwischen den Knien. Bei jeder Drehung stößt sie mit dem Ellenbogen gegen die Brust.

Muss ja nicht unbedingt sein, denkt Bruno. Das kann dumm ausgehen. Und froh, dass dies sein Entschluss ist, beschließt er, ein Ende zu machen.

Er zieht sich an, setzt sich an den Tisch, übersieht die braune Henkeltasse, aus der der frisch gebrühte dampft. Kaffee trinkt er nur aus Gesellschaft. Geschmack hat er nicht von so was. Und heute wird er seiner besseren Hälfte keinen Grund geben, noch einmal über ihn herzufallen. Er trinkt Wasser. Isst Brot und Stangenkäse. Wischt sich den Mund mit dem Handrücken, nutzt die Bewegung gleich, um auf den Schrank zu langen. Her mit dem elendigen Ding! Wäre ja gelacht.

Das Ding verschwindet in der Joppentasche. Es beutelt ganz schön. Und Frieda ruft was von Schlumpsack aus dem Fenster. Aber Bruno hört es nicht mehr. Er ist schon unterwegs. Unterwegs mit der elektrischen Kaffeemühle, die nun endlich repariert werden muss.

Früher, denkt Bruno, während er aufs Rad steigt und aus dem Hoftor kurvt, früher wäre das keine Begebenheit gewesen. Da wärst du zu Zapke-Alfred hintenrein gegangen. Und der Gehilfe hätte sich das Ding vornehmen müssen. Du hättest mit dem Alfred derweil einen Schnaps getrunken. Und einen Schlag geredet. Oder auch zwei, je nachdem, wie lange das dauert.

Früher hatte Bruno keine elektrische Kaffeemühle. Frieda hat mit der Hand gemahlen, und nie war die Brust im Wege. Tja, früher, denkt Bruno. Er blinzelt in die Morgensonne, um mit der Melancholie fertig zu werden. Fertig ist er sehr schnell damit, wenn er an heute denkt. Zapke-Alfred ist tot. Elektromeister gibt es keinen mehr im Ort. Dafür eine Annahmestelle für kaputtes Zeug. Bruno stellt die Mühle hart auf den Ladentisch.

Tja, dauert vier Wochen!

Was, vier Wochen?

Tja, es wird eingeschickt.

Bruno rafft die Mühle an sich. Die kriegen Sie nicht!

Vor Rias Gasthaus winkt Heider-Karl. Um zehn wird offiziell geöffnet. Nicht für Heider-Karl, der kann in die Küche. Er würde Bruno mitnehmen, würde sagen: Das ist mein Freund. Ria wäre machtlos. Seit wann gelten Öffnungszeiten, wenn Freunde sich treffen. Aber Bruno sieht über Heider-Karl in die Luft. Was braucht er einen Parlamentär. Er könnte Tag und Nacht zu Ria in die Küche, wenn er wollte. Jetzt will er nicht. Jetzt muss er das elendige Ding unterbringen.

Vor der Post überlegt er einen Moment. Straße oder Schiene? Der Bus fährt eher. Bei der Reichsbahn aber hat er früher mal auf der Strecke gearbeitet. Das entscheidet. Bruno stellt das Rad bei Boblitz ab, der hat hinten auf den Bahnhof zu einen Schuppen. Er wird gucken, der Adolf, wird denken: Nanu, ein Rad. Das denkt er immer, bei jedem Rad, das zu ihm gestellt wird. Wegen der Steuer. Viele zahlen fürs Unterstellen, wenige nicht. Solange sich Boblitz-Adolf wundert, kann der Fiskus nicht an ihn ran.

Der Zug fährt erst um neun. Neun Uhr sieben. Bruno rechnet um: also acht Minuten vor viertel zehn.

Einmal Rentner, sagt Bruno am Schalter. Die Stimme klingt poltrig in der leeren Halle. Das Mädchen hinter der Scheibe sagt nicht muh noch mäh. Es schiebt ihm eine Fahrkarte in die Kreisstadt hin. Schlechte Nacht gehabt, das Ding, denkt Bruno. Er überlegt, ob er das anbringen könnte. Sieht sich das Mädchen an, verzichtet darauf. Sie ist ihm zu grün für so was.

Die Bahnhofsuhr zeigt acht Uhr dreiundvierzig. Bruno zieht seine Taschenuhr und vergleicht. Missmutig stellt er sie drei Minuten vor. Lieber würde er die Bahnhofsuhr zurückstellen. Aber er kommt da nicht ran.

Bei Franz ist schon auf. Franz hat es nicht gern, wenn einer Kneipe zu einem Bahnhofslokal sagt. Er wischt die chromblitzende Theke genau an der Stelle, auf die Bruno mit dem Fingerknöchel geklopft hat. Wischt und wischt.

Heil, Kneipe! hat Bruno gesagt.

Bist du aktiv, murmelt Franz. Bleib lieber liegen mit dem Arsch im Bette.

Er zapft ein Glas Bier.

Bruno stößt das Kinn nach vorn.

Was verstehst du schon. Unsereins hat egalweg zu tun.

Das will Bruno eigentlich sagen. Aber er sagt: Bin schon halb fünf raus, heute.

Er trinkt sein Bier in einem Zug. Franz wackelt anerkennend mit den Ohren. Die Augen verschwimmen in Wasser. Das Gesicht besteht nur noch aus Nase. Aus einer roten Knollennase. Bruno setzt sich. Ist ja noch Zeit. Und am Tisch sitzt so was wie ein verständiger Mensch. Da hat man Gesellschaft. Prost, sagt Bruno.

Der verständige Mensch nickt. Noch eine Cola bitte.

Cola ist nicht gut, sagt Bruno. Macht Mücken im Bauch, Bier müssen Sie trinken, junger Mann.

Doch nicht jetzt, am frühen Morgen.

Der Morgen ist nicht früh. Es ist gleich neun Uhr. Vier Minuten vor neun, sagt Bruno, die Taschenuhr gezückt.

Zwei Minuten bis neun, sagt der verständige Mensch.

Vier, sagt Bruno, ich hab gestellt.

Franz mischt sich nicht ein. Wenn er Mittag zumacht, wird er die genaue Zeit wissen. Er bringt Cola und Bier. Der verständige Mensch zahlt gleich. Er will keinen Streit. Und muss sich doch anhören, wieso Brunos Uhr immer richtig geht. Eine lange Geschichte von einem gewissen Antek, der nichts weiter benötigte als eine Lupe und ein spitzes Taschenmesser.

Alles hat er gemacht, sagt Bruno, alles mit dem Messer. Sogar das Kirchturmwerk. Und das geht heute noch.

Der verständige Mensch ist Brunos Argumenten nicht gewachsen.

Er flieht in die Bahnhofshalle zum Uhrenvergleich. Cola, sagt Bruno verächtlich. Und trinkt einen guten Schluck. Der wird mir was erzählen!

Franz sagt überhaupt nichts mehr. Er wischt auf der Theke rum, trinkt seinerseits einen Schluck, auf der Knollennase bleibt ein Schaumreif zurück.

Kein Schneid, so was, sagt Bruno. Muss eben recht haben. Und nun traut er sich nicht mehr rein.

Der ist mit dem Zug weg, sagt Franz unschuldig. Bruno springt auf. Was, Mensch, welcher Zug? Franzens Augen verschwimmen. Neun Uhr sieben, zwölf Uhr zweiundzwanzig in Königs Wusterhausen an.

Dann geht er in die Küche. Er hat seine Rache gehabt. Von wegen Kneipe.

Bruno schüttelt den Kopf. Und der Mensch sah so verständig aus.“ Aber auch in der Kreisstadt, so scheint es, wird sich das Reparatur-Problem von Bruno nicht so einfach lösen lassen. Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.

Erstmals 1997 erschien im Leipziger Verlag Faber & Faber der Roman „Das Hundeohr“ von Herbert Otto: Der Autor erzählt die Geschichte des weitgereisten Zirkusartisten Edgar Deutschmann, dem nach einem Sturz vom galoppierenden Pferd im Zirkus von Montevideo ein Hundeohr transplantiert werden muss. Der Roman verknüpft in eigenwilliger Weise die gesammelten Erfahrungen aus allen Weltbezirken mit der Frage nach der Verantwortung der medizinischen Wissenschaft und dem Streben nach Gewinn und Macht. Wenn Edgar Deutschmann den Regler richtig einstellt, kann er nun das 16-Fache der menschlichen Hörfrequenz aufnehmen; selbst sprachgeformte Gedanken kann er hören.

Als er eines Tages gar Stimmen aus längst vergangenen Zeiten wahrnimmt, vermutlich die vererbten akustischen Erinnerungen aller Hunderassen, wird es ihm ganz ungeheuerlich. Rätselhaft blieb ihm der medizinische Eingriff zwar von Anfang an, aber erst nachdem sein Arzt tödlich verunglückt – ist es Unfall oder Mord? – nehmen die mysteriösen Wahrnehmungen zu. Ist das Hundeohr der Auftrag eines geheimen Dienstes? Mit diesem Roman ist Otto ein rätselvolles und zugleich entlarvendes Buch geglückt, das von Schurken und Gerechten bevölkert ist, und in dem Liebe und Begehren die leisen Schwestern wilder Geschichten sind. Hier treffen wir die Hauptgestalt zum ersten Mal:

ERSTES KAPITEL

In der Küche stehend, dachte Edgar: Ich bin zur Konserve verurteilt. Mexikanische Bohnen aus dem Beutel. Er hatte eine Zwiebel geschält, ohne sich noch zu erinnern, weshalb. Er überlegte, welcher Wochentag denn sei, und obwohl er sich liederlich vorkam, gab er es auf.

Die geschälte Zwiebel war mittelgroß. Er nahm sie, zeigte sie wie einen seiner Spielbälle vor, zwischen Daumen und Zeigefinger rollend, ließ sie verschwinden und wieder erscheinen. Dabei entglitt sie ihm fast. Er verbeugte sich knapp Richtung Fenster. Auch zur Tür hin. Und Edgar sagte jetzt: „Ich wollte nie aufs Pferd.“ Und lauter: „Vom Rücken der Pferde erholt man sich nie.“

Er sah sich um und erschrak darüber, weil er doch wissen musste, dass er allein im Hause war und niemand ihn hören konnte, und er fragte sich, was zu tun sei, um die Sinne wieder zu ordnen.

Vor zwei Tagen war sein Freund Karli gestorben, der Gefährte aus Kindertagen und Schulzeit, später Arzt für Nase, Hals und Ohren. Man fand ihn im Auto, im Wasser, an der Badestelle einer früheren Kiesgrube, kurz vor dem Dorf, wo sein Bruder wohnt. Tod am Steuer. Herzversagen. Bei einem Mann von Mitte Vierzig? Selbstmord? Edgar kam darauf, dass gewaltsamer Tod in Betracht gezogen wurde, denn man hatte die Leiche als ein Mittel zur Beweisführung festgenommen. Aber nein. In Verwahrung. Tote kann man nicht verhaften.

Viel tiefer als Edgars Schmerz und Trauer gingen, griff die Erschütterung. Er fand kaum noch Schlaf, ging im Garten hinterm Haus ziellos umher und versäumte es zu essen. Die Gespräche, die er gedanklich mit Toten und Lebenden führte oder mit sich selbst, wurden häufiger. Auch verworrener. Der Tiefpunkt seiner Krise schien erreicht.

Vor gut drei Jahren, an einem Januartag, hatte der Umsturz in seinem Dasein begonnen: Im Zirkus in Montevideo stürzte er vom Pferd in die Manege, leichte Lähmung stellte sich ein, später eine Taubheit, die rasch zunahm. Und Karli, sein Freund, hatte vorgeschlagen, ihm ein neues Ohr einzusetzen; was er schon längst einmal habe versuchen wollen: Das Ohr eines Hundes. Minisender und -empfänger dazu und ein Steuergerät, das die hohen Frequenzen, die das neue Ohr empfing, stufenlos reduzieren konnte bis auf das normale menschliche Maß.

Die Operation fand unter rätselhaften Umständen statt, die Edgar bis heute nicht entziffern konnte. Aber sie gelang, die Elektronik leistete ihren Dienst, und er hörte, wenn er den Regelknopfhöher stellte, mehr und mehr Signale, auch allerfeinste akustische Äußerungen von Ameisen, Käfern oder Motten. Oder Laute unbekannter Herkunft. Oft genug und bei günstigen Bedingungen gelang es ihm sogar, gedachte Wörter oder Sätze eines Menschen zu empfangen, wenn der andere sich nahe genug neben ihm befand.

Niemand, der ihn dazu zwang, den Knopf zu betätigen. Doch die Versuchung, es zu tun, war immer gegenwärtig. Sie war eingepflanzt und mitgeliefert.

Wo läuft die Grenze zwischen Zwang und Versuchung? Sieh zu, wie du zurechtkommst. Und schließlich gab es Karli als Berater und seelischen Beistand, zu jeder Stunde, Tag und Nacht zur Hilfe bereit.

Nach Mutters Tod vor einem Jahr fehlte nun auch er. Kaum etwas schien noch fest und am gewohnten Platz zu stehen. Wie wünschte Edgar sich, gesammelt dazusitzen, die Beine kreuzweise untergeschlagen, und einfach ein- und auszuatmen, frei von Verwirrung. Stattdessen tat er nichts. Oder absonderliche Dinge: Er ging nachts, einen der Clownshüte auf dem Kopf, mit der Harmonika in den Garten und spielte ein kunstvolles Ineinander von Let it be, der Internationale und Love was an easy Game to play. Er beschnitt Rosenstöcke, jetzt im Juni, auch Triebe mit Knospen. Kurz halten alles, desto üppiger wird es ausschlagen. Er kramte das alte Diktiergerät hervor, das er Anfang der Siebziger in Los Angeles gekauft und als gesprochenes Tagebuch verwendet hatte, und er wollte damit beginnen, die Mitteilungen, die er Toten und Lebenden zu machen hatte, auf die kleinen Tonbänder zu sprechen.

Noch schien er in der Lage, sein Treiben zu beobachten und kritisch zu bewerten, doch bisweilen kam ihm der Verdacht, er sei nahe daran, den Verstand zu verlieren.

An diesem Nachmittag fuhr er zu einem vereinbarten Auftritt – seit dem Unfall zeigte er nur noch Clownerie, Pantomime und Zaubernummern -, und auf dem Wege dorthin hielt er am Friedhof an, nahm den Koffer mit den Utensilien und setzte sich an das Grab der Mutter. Es redet sich gut mit Toten. Sie erteilen keinen Rat mehr, der zu falschen Entschlüssen führen könnte.

Du siehst, sagte er zu ihr, ich bin ohne Blumen. Seit der Sache mit Rosemarie – er sagte nicht Rose, wenn er im Zorn an seine frühere Frau dachte – war ich nicht in diesem Zustand. Und ich kann nicht mehr leben mit dem Ohr. Ich habe es seit drei Monaten kaum noch benutzt. Seit ich Sabine kenne. Ich will nicht wissen, ob sie lügt.

Das Gold auf dem Stein, sah er, begann sich bereits zu lösen. An der Sieben.

Ich habe nie aufs Pferd gewollt. Du weißt, wie ich gezaubert habe, da war ich fünf. Reprisenclown war ich mit acht. Deine Entschiedenheit, auch wenn sie sanft kam, war von preußischer Strenge.

Er sprach vom Rhododendron, der sich um Kopf und Kragen blühte in diesem Jahr. Er werde morgen ein Glas voller Blüten mitbringen. Nein. Übermorgen. Er müsse erst zu einem Freund von Karli, einem gewissen Doktor Bickel. Auch ein Ohrenarzt. Du kennst ihn nicht, sagte er. In letzter Zeit kam Karli selten auf ihn zu sprechen und, so schien es, mit unguten Gefühlen. Sogar mit Groll. Jedenfalls rief dieser Doktor Bickel gestern an. Es läge ihm daran, mich zu sehen. Der Kuckuck weiß, warum. Ich kenne ihn kaum. Und plötzlich nach Karlis Tod dieser Anruf. Ungenaues macht Missvergnügen. Hat meine Gründlichkeit. gelitten? Wie kommt er zu meiner Nummer?

Ob er überhaupt hinfahren sollte, wusste er noch nicht. Er zupfte, auf dem Koffer sitzend, etwas Unkraut vom Hügel, holte in der Blechbüchse Wasser, um die kleinen Stauden zu gießen. Dieser Frühsommer war zu trocken.

Er sollte hier eine Sitzbank bauen, zwei Rundhölzer, ein kurzes Brett. Für eine Person.

Es hörte sich besonders im Spanischen gut an, groß auf Plakaten gedruckt in Havanna, in Buenos Aires: Edi y Rosa. Sie waren nicht nur dem Klang nach eine gute Nummer. Sie galten etwas, seit er den doppelten Salto vom galoppierenden Pferd zeigte. Er könnte ja auch, fiel ihm ein, an einer Ecke der Bourbon Street stehen, bunte Kleidung, Vaters Geige im Arm, reglos wie eine Statue, und wenn einer der Passanten den Dollar in die Büchse steckt, beginnt er zu spielen. Natürlich etwas von Benny Goodman. Oder an Wochenenden jonglieren unweit von Jackson Place. Wenn er sich recht erinnerte, war es 1803, als Napoleon die Stadt New Orleans an die Vereinigten Staaten verkaufte. Und ganz Louisiana dazu. Er brauchte das Geld für den Krieg.“

Erstmals 1965 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Jakob lässt mich sitzen“ von Joachim Nowotny – gedacht für junge Leserinnen und Leser ab elf Jahren: Heiko steht am Zaun und wartet auf seinen großen Freund Jakob. Seit Tagen ist er nicht mehr nach der Arbeit an den Fischteichen vorbeigekommen und hat Heiko auf seiner Jawa mitgenommen. Jakobs Gedanken sind nur noch bei Manja, der hübschen Tochter des Försters. Für sie ist der Platz auf der Rückbank jetzt reserviert. Heiko kann nicht mehr schlafen und sich in der Schule nicht konzentrieren. Er müsste dafür sorgen, dass die beiden nicht zueinander finden. Wird er Jakob wieder ganz für sich haben? Doch bevor diese entscheidende Frage beantwortet wird, treffen wir erstmal Heiko und sehen ihn warten und hören sogar Hühner sprechen:

1. Kapitel

Heut ist die ganze Welt gegen mich.

Der Bussardvogel, der unter der Sonne und über dem Kiefernwald kreist, schreit mir ein höhnisches Piiäh zu. Der Storch tritt an den Rand des Nestes auf der Linde, er drückt den Kopf nach hinten und stößt den Schnabel in die warme Luft. Dann klappert er los. Es klingt, als würde er mich auslachen. Und die Sperlinge, die wie Lumpenbälle im Fliederbusch hängen, spektakeln, dass einem die Ohren wehtun. Die Hühner durchharken mit gekrümmten Pfoten das kurze Maigras auf der Wiese. Ab und an recken sie die Köpfe. Sie sehen zu mir her und quarren sich einen seltsamen Laut zu: Raaak-gack! Ich weiß schon, was das bedeuten soll.

„Seht euch den Heiko an!“, heißt das. „Er hockt den ganzen Nachmittag auf einem Fleck. Ist er vielleicht krank, dass er nicht wie sonst herumflitzt?“

Das Federvolk hat keine Ahnung. Ich muss hier auf dem Zaunpfosten sitzen. Auch wenn es Holzpantoffeln regnen sollte. Keine Macht der Welt bringt mich hier weg. Mag es ruhig aus dem offenen Küchenfenster nach frisch gebackenem Napfkuchen duften. Mir macht das nichts aus. Und wenn die Großmutter zehnmal die Teigschüssel auf dem Tisch hin und her schiebt, ich werd mich nicht verlocken lassen. Soll sie die Schüssel selber auskratzen. Heute habe ich fast keinen Appetit darauf. Oder doch?

Plötzlich schießt die Katze durch die Haustür auf den Hof. Ein Filzpantoffel taumelt durch die Luft und landet neben dem Hühnerhof im Sand. Während sich die Katze das Maul beleckt, höre ich die Großmutter schimpfen: „Hat der Mensch Töne? Nicht mal der Zuckerguss ist vor dem Biest sicher.“

Da läuft mir das Wasser im Munde zusammen. Ich schmecke sofort die Süße des Zuckers und die prickelnde Säure des Zitronensaftes auf der Zunge. Nur einen Löffel voll jetzt! Danach könnte ich drei geschlagene Stunden hier hocken und warten. Schon will ich auf einen Sprung in die Küche, da fällt es mir wieder ein: Lieber nicht! Unsereins muss auf seinem Posten bleiben. Das meiste passiert sowieso immer gerade, wenn man nicht dabei ist.

Missmutig breche ich mir einen Zweig aus dem Fliederbusch. Dann umklammern meine Füße wieder den Zaunriegel. Ich zerfasere die Rinde mit den Zähnen. Brrr, das schmeckt bitter! Aber es vertreibt die Zuckersehnsucht aus dem Munde.

Warum muss sie gerade heute backen? denke ich.

Meine Augen wandern im Kreis. Hinter der Scheune erhebt sich der Kiefernwald. Die Bäume stehen schweigsam und reglos beieinander wie Leute, die auf eine Beerdigung warten. Nur die Blätter der Zitterpappel am Waldrand spielen nicht mit. Sie winken in einer Tour und tun so, als wehe wer weiß was für ein Wind. Dabei geht kein Lüftchen. Nicht einmal die Schmetterlinge über der Wiese werden abgetrieben. Und auch das dünnstänglige Gras am Feldwegrand bewegt sich kaum. Auf dem Sandweg geht die Langeweile spazieren. Kommt sie an einem Roggenschlag oder einem Kartoffelfeld vorbei, bläht sie sich mächtig auf. Aber das grüne Meer der kniehohen Halme und die gestreckten Furchen lassen sich nicht ausstechen: Ätsch, wir sind viel langweiliger als du!

Vor dem Dorf kehrt die Langeweile wieder um. Dort hat sie nichts zu suchen. Sie ist mehr hier draußen zu Hause. Wenn ich mich nicht täusche, dann wohnt sie hier bei uns in der Einsamkeit. Eine Weile wandert sie noch umher. Auf einmal macht sie einen Sprung in die finstere Scheunenecke. Der kleine Bulko kommt quer über die Wiese gerannt. Mit dem will die Langeweile nichts zu tun haben. Er ist ihr zu lebendig.

„He!“, ruft er schon von Weitem. „Heiko! Mach schnell, es brennt.“

Ich rutsche zweimal auf dem Zaunpfosten hin und her. Aber ich bezwinge mich und sage zu dem kleinen Bulko: „Dich werden sie schon noch mal kaschen, wenn du ihnen die Wiese zertrampelst.“

„Hach“, sagt er, „die kriegen mich nicht.“ Er stopft sich die Hemdzipfel in die Turnhose. „Niemals kriegen die mich.“

„Und der Schurig?“, frage ich.

Der Schurig, das ist unser neuer Agronom im Dorfe. Vor drei Wochen kam er von der Schule weg zu uns. Noch niemand hat ihn rennen sehen. Aber der kleine Bulko weiß Bescheid.

„Der Agronom“, sagt er und schüttelt sich den Sand aus den Schuhen, „der Agronom latscht immer in Gummistiefeln rum. Wie wird er da vernünftig rennen können?“

Der kleine Bulko hat wieder einmal recht.

„Was denn nun?“, drängelt er. „Willst du auf dem Pfosten festwachsen?“

Ich hole tief Luft. „Es geht nicht, kleiner Bulko“, sage ich leise. „Ich muss hierbleiben.“

„Aber sie brennen am Mühlteich einen alten Schilfhaufen ab, Mensch. Flammen, so hoch, so hoch wie euer Haus. Und bloß der alte Zieschang ist dabei.“

Haushohe Flammen und der alte Zieschang, denke ich. Wie schnell hätten wir den überlistet! Wir brauchten bloß eine Weile ins Wasser zu stieren und dann was von einem Hecht zu flüstern, schon wären wir ihn los. Wenn der alte Zieschang einen Fisch spürt, vergisst er alles andere. Sogar so ein Feuer. Mit Leichtigkeit kämen wir heran. Und dann …

Ich presse die Knie gegen das Pfostenholz. „Es geht wirklich nicht.“

Der kleine Bulko staunt. Er reißt die schwarzen Augen auf und schiebt die Oberlippe vor. „Hast du am Ende Arrest?“

Ich schüttele den Kopf. „Keine Spur. Aber es geht trotzdem nicht.“

Da feuchtet der kleine Bulko die Fingerspitzen mit der Zunge an. Dann fährt er mit ihnen über das kurzhaarige Kopffell. „Ich muss gehen. Mach’s gut, Heiko!“, sagt er.

Und schon rennt er wieder über die Wiese dem Dorfe zu. Unter seinen Füßen färbt sich das helle Maigras dunkel. Ehe es sich aufgerichtet hat, ist die Langeweile wieder da.“

Ebenfalls im Kinderbuchverlag veröffentlichte Wolfgang Held erstmals 1966 „Das Steingesicht von Oedeleck“: Den 12-jährigen Rolf, Sohn des Bergarbeiters Erich Freitag, und den gleichaltrigen Jürgen, Sohn des Zechendirektors Brecher, verbindet seit der 1. Klasse eine tiefe Freundschaft. Diese steht vor einer harten Bewährungsprobe, als der alte Schlämmteich im Schacht verschwindet und 49 Kumpel nach dem Wassereinbruch nicht mehr nach oben kommen. Nach der Rettung einiger weniger Eingeschlossener werden Stimmen laut, die die Grubenleitung anklagen, von dem drohenden Wassereinbruch gewusst und nichts unternommen zu haben. Viel zu schnell wird die Suche nach weiteren Eingeschlossenen aufgegeben. Rolf kann und will nicht glauben, dass sein Vater tot ist. Tumultartig löst sich die eilig anberaumte Trauerfeier auf, als Klopfsignale aus dem „Alten Mann“, einem vor längerer Zeit stillgelegten Schacht, vernommen werden. Können die Bergleute gerettet werden, wird Rolf seinen Vater wiedersehen? Das erstmals 1966 im Kinderbuchverlag Berlin erschienene Buch fesselt in seiner atemberaubenden Spannung Kinder ab 12 Jahre, aber auch Erwachsene. Und so beginnt das spannende Buch, dem eine wahre Geschichte des Grubenunglücks von Lengede am 24. Oktober 1963 zugrunde liegt – dem „Wunder von Lengede“:

Ein Teich versinkt

Rolf schnaufte vor Eifer.

Ein kurzes, handliches Holzscheit riss das tunnelartige Loch in der Uferböschung tiefer und tiefer. Sand quoll hervor, und kleine Steine kullerten hangabwärts in den Teich. Es plätscherte leise. Über die spiegelglatte Wasserfläche krochen winzige Wellenringe.

Rolf schaute gebannt auf das Loch, das jetzt groß wie ein Fußball war und eine halbe Armlänge tief in den Boden reichte. Gleich, dachte er. Noch drei, vier Zentimeter vielleicht, und ich hab’s. Silber. Eine Ader, so dick wie ein Fahrradschlauch und hundert Meter lang. Und wenn es Gold ist? Gelbes, glänzendes Gold ist schließlich viel wertvoller als Silber. Natürlich, es wird eine Goldader sein!

Rolf schwitzte. Sand klebte an seinen Armen, hing in den blonden Augenbrauen, rieselte unter die offene Hemdbrust. Bald war das Holzscheit stumpf und faserig geworden. Er warf es zur Seite, scharrte mit bloßen Händen weiter. Plötzlich stockte er. Geschafft? Beinahe schmerzhaft waren seine Finger auf harten kantigen Widerstand gestoßen. Er spähte in das Loch, konnte aber nichts erkennen. Vorsichtig tastete er den Grund ab. Nein, keine Ader. Ein faustgroßer Brocken lag da in der Erde. Reines Gold oder mindestens Silber, soviel stand für Rolf sofort fest. Ihm wurde glutheiß. Hastig begann er, den Fund freizukratzen.

In dieser Minute stampfte oben am Rand der Böschung eine Gestalt heran. Ihr Gang war seltsam steif und staksig. Leicht gebeugt schleppte sie auf ihrer Schulter einen langen, knorrigen Knüppel. Es ging etwas Unheimliches, Drohendes von ihr aus.

Rolf hätte sie längst bemerken müssen, aber er blickte erst auf, als sie oberhalb des Loches stehen blieb, den Knüppel schwer wie ein Schwert vor sich in den Boden stieß und dumpf befahl: „Halt ein, wenn dir dein Leben lieb ist!“

Eigentlich hätte Rolf nun erschrocken sein müssen, aber er war es nicht. Er hob den Kopf und warf der Gestalt einen kurzen Blick zu, geradeso, als hätte er sie schon seit geraumer Zeit erwartet. Er rümpfte ein wenig die Nase und steckte die Hände wieder in das Loch. Langsam, behutsam fast, zog er seinen Fund hervor.

„Hüte dich!“, klang es nun dunkel und Unheil verkündend vom Rand der Böschung herab. Noch immer blieb Rolf unbeeindruckt. Er sagte kein Wort. Bedächtig krabbelte er, in seiner Rechten den scharfkantigen grauen Brocken haltend, hangaufwärts. Oben angekommen legte er den Fund vor seine Füße. Gelassen klopfte er den Sand vom Hemd und von den Armen. Er schnüffelte geräuschvoll, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und hakte schließlich die Daumen hinter den Hosenbund. Herausfordernd betrachtete er den eigenartigen Störenfried. „Was willst du von mir?“

„Ich bin Steingesicht! Du bist in mein Reich eingedrungen.“ Die Gestalt reckte sich. Sie hob den Knüppel und stieß das Ende kräftig in den Grasboden. „Alle Schätze da unten sind mein. Du hast mich also bestohlen … Dein Leben gehört mir!“

„Und was willst du damit?“ Rolf wippte überlegen auf den Fußsohlen.

Offensichtlich verwirrte seine Haltung den Erdgeist. Verdutzt musterte er Rolf und suchte krampfhaft nach einer möglichst Furcht einflößenden Erwiderung. „Ich … In einen Regenwurm kann ich dich verzaubern, wenn ich nur will. Oder in eine alte, klitschige Kröte! Oder einfach in einen Stein!“

Rolf grunzte. „Dann am liebsten in einen Stein. Marmor, wenn’s geht.“

In der Miene des Erdgeistes spiegelte sich Entrüstung. Einen Augenblick lang nagte er unschlüssig an der Unterlippe, dann ließ er plötzlich den Knüppel los und war kein Steingesicht mehr. Damit aber blieb auch Rolf nicht länger ein Schatzsucher. Der Goldbrocken zu seinen Füßen wurde wieder ein gewöhnlicher Stein.

„Du bist ein Spielverderber!“, stellte Jürgen fest. Er war gekränkt und hockte sich neben dem Knüppel nieder. „Vor Steingesicht musst du Angst haben, sonst macht es überhaupt keinen Spaß.“

„Ich hab eben keine.“ Missmutig setzte sich Rolf neben seinen gleichaltrigen Freund, angelte nach dem Stein und ließ ihn spielerisch von einer Hand in die andere plumpsen. „Warum soll es nicht auch mal einen geben, dem vor dem Steingesicht nicht gleich die Knie schlottern, he?“

Es klang nicht sehr überzeugt. Wer in der kleinen hannoverschen Bergarbeiterstadt Oedeleck aufgewachsen war, der hafte vom Unwesen des Erdgeistes Steingesicht schon lange, lange vor der Zuckertüte erfahren. Immer waren es Bergleute, denen in den Stollen tief unter der Erdoberfläche – unter Tage, wie es in der Bergmannssprache heißt – dieser Spuk begegnet sein sollte. Nur ganz selten, so wurde berichtet, sei einer mit dem Leben davongekommen. In Oedeleck war es nur der einarmige, nun schon seit über zehn Jahren auf der Veteranenbank sitzende Steiger Wiczorek. Nach dem vierten Glas Bier erzählte der Alte jedem, der es hören wollte, die unheimliche Geschichte. Bei einem Kontrollgang durch einen stillgelegten Seitenstollen hatte ihn plötzlich ein eisiger Hauch erstarren lassen. Schlagartig war die Lampe an seinem Grubenhelm erloschen, und schwarze Finsternis hatte ihn umhüllt, grabesstill und lähmend. Dann aber sei mit einem Male ein rätselhaftes, fahles Leuchten von der Stollenwand ausgegangen, und aus dem blanken Fels heraus hätte sich, von Kopf bis Fuß ganz aus Stein, eine große, menschenähnliche Gestalt gelöst. Langsam und stumm wäre sie auf ihn zugekommen, wobei jede Bewegung in den Gelenken vom schrillen Kreischen hart gegeneinanderreibender Steine begleitet gewesen sei. Der Steiger habe sofort gewusst, dass ihm nun der Tod nahte. Er kannte alle Geschichten von den Bergleuten, die das Steingesicht mit Felsbrocken erschlagen, in plötzlich sich auftuende Schlünde geschmettert oder mit einem giftigen Atemstoß erstickt hatte. Es war, wie er stets eingestand, nicht Mut, sondern verzweifelte Todesangst gewesen, die ihm im letzten Augenblick noch übermächtige Kraft verliehen hatte. Steingesicht war schon ganz dicht bei ihm gewesen, hatte mit der felsigen Faust bereits zum Schlag ausgeholt, als er, wie von tausend Teufeln verfolgt, blindlings dem Stollenausgang zugejagt war. Bleich und völlig erschöpft hatte er seine Kameraden erreicht und war vor ihnen bewusstlos zusammengebrochen. Erst im Krankenhaus hatte er wieder die Augen aufgeschlagen. Obwohl ihn Steingesichts Schlag nur leicht gestreift hatte, war es eine böse, fressende Wunde geworden, und die Ärzte sahen bald keine andere Möglichkeit mehr, als den Arm abzunehmen. Es hätte schlimmer ausgehen können, sagte der alte Wiczorek jedes Mal, wenn er mit seiner Geschichte zu Ende war, und wer schon mehr vom Steingesicht gehört hatte, der gab dem Steiger gern recht.

„Wenn du absolut keine Angst haben willst, dann musst du eben das Steingesicht spielen und ich den Schatzsucher.“ Neugierig beobachtete Jürgen seinen Freund. „Willst du?“

Rolf gab nicht gleich eine Antwort. Noch immer hielt er den ausgegrabenen Stein in den Händen. Er schien zu überlegen. Sein Blick wanderte über den Teich hin zum Förderturm der Oedelecker Erzgrube. Schwarz und mächtig hob sich das hohe Gerüst vom blauen Julihimmel ab. Dicht unter dem gewölbten Wellblechdach kreisten die beiden großen Räder, über die das Förderseil lief. Seitlich vom Kesselhaus stieg steil und breit die Halde empor, ein Berghüne, der weithin sichtbar die Landschaft überragte, aufgeschüttet mit Gestein und Sand und Lehm aus dem bis in mehr als hundert Meter Tiefe vorgetriebenen Netz der Schächte und Stollen. Irgendwo dort unten arbeitete in dieser Nachmittagsstunde auch der Hauer Erich Freitag, Rolfs Vater.

„Eigentlich ist das ein blödes Spiel“, meinte Rolf endlich. Der Stein kullerte den Hang hinab, klatschte ins Wasser und versank. Rolf strich eine in die Stirn gefallene blonde Haarsträhne zurück. „An das Steingesicht glauben nur Wickelkinder und Klatschtanten.“

„Na und?“ Jürgen blickte erstaunt. „Bisher war’s trotzdem immer ganz spannend. Oder weißt du was Besseres?“

„Klar. Baden!“

„Hier? Im Teich?“ Ein wenig unsicher schaute Jürgen hinunter. Das Wasser war glatt und undurchsichtig wie aus schwarzem Glas. Vor Jahren, als es noch nicht das neue, betonierte Klärbecken drüben auf der anderen Seite des Schachtgeländes gegeben hatte, waren hierher die Abwässer aus der Erzgrube gepumpt worden. Auch jetzt noch verbot eine Tafelaufschrift das Baden in diesem Teich, in dem kein Fisch lebte und an dessen Ufern nur spärlich ein paar Hälmchen dahinkümmerten. „Wollen wir nicht lieber zu uns nach Hause gehen?“ Zu der kleinen Villa, in der Jürgen mit seinen Eltern wohnte, gehörte auch ein parkähnlicher ausgedehnter Garten mit einem richtigen kleinen Schwimmbad.

„Seit wann bist du denn feige?“ Rolf zog sich schon das Hemd über den Kopf. „Ich glaube, die nageln dich dort in deiner neuen Luxuspenne wirklich noch zu einer Memme um.“

Jürgen feixte und schnürte seine Turnschuhe auf. Er fühlte, dass hinter den Worten des Freundes der Kummer über die näher rückende Zeit der Trennung steckte. Seit Beginn der Ferien war kein Tag vergangen, an dem Rolf nicht mindestens eine Spitze gegen die oberbayrische Internatsschule abgeschossen hatte, in die Jürgen von seinen Eltern vor einem Jahr geschickt worden war. Seitdem sahen sich die Freunde nur noch in den Ferien. Sie gaben es nicht zu, aber sie litten beide darunter. Vom ersten Schultag an hatten sie in einer Bank nebeneinandergesessen. Sie tauschten in den Pausen ihre Frühstücksbrote und bald auch ihre Lieblingsbücher. Jürgen half Rolf beim Aufsatzschreiben, und der Bergarbeitersohn brachte ihm das Schwimmen bei. Von Monat zu Monat waren sie unzertrennlicher geworden.“

Erstmals 1998 veröffentlichte Jan Flieger im Arena Verlag Würzburg „Der vertauschte Mittelstürmer. Elf Kicker im Fußballfieber“: Das ist ein Fußballbuch, jedenfalls ein Buch mit Fußballgeschichten, mit vier Fußballgeschichten. Da geht es zum Beispiel um eine Mannschaft, der ausgerechnet vor dem entscheidenden Spiel um die Kreismeisterschaft Christian abhandenkommt, der Mittelstürmer, der in jedem Spiel ein Tor schießt. Zum Glück für die Mannschaft hat Christian eine Zwillingsschwester, Caroline. Caroline kann auch Fußballspielen, und sie hat eine tolle Idee. Ob sie die Kreismeisterschaft auch ohne Christian gewinnen können?

Auch in den drei anderen Fußballgeschichten geht es um das runde Leder, allerdings ganz anders als erwartet – aber trotzdem spannend zu lesen. Und hier die komplette Geschichte von Christian und Caroline und der Mannschaft der F-Jugend des Post Sportvereins:

„Der vertauschte Mittelstürmer

Die Sonne brennt heiß auf den Sportplatz. Die Kinder der F-Jugend des Post Sportvereins lassen die Köpfe hängen. Nicht etwa, weil sie die Hitze quält.

Nein. Ihr Trainer ist krank geworden.

Und die Grippe hat auch einen Jungen der Mannschaft gepackt. Christian hustet und schnieft. Er liegt zu Hause schwitzend im Bett.

Ausgerechnet beim letzten Training vor dem entscheidenden Spiel gegen den TSV Blau-Weiß. Wenn sie die schlagen, sind sie Kreismeister.

Aber nun ist Christian krank.

Christian, der Mittelstürmer.

Christian, der in jedem Spiel ein Tor schießt. Immer.

Doch plötzlich erhebt Caroline ihre Stimme. Sie ist Christians Schwester. Genauer gesagt: seine Zwillingsschwester.

Sie hat feuerrote Haare, wie er. Aber sie trägt einen langen Pferdeschwanz. Christians Haare dagegen sind rappelkurz. Natürlich gehen die beiden in dieselbe Klasse, die 2 a.

„Ich spiele für Christian“, schlägt Caroline vor. „Ich sehe so aus wie er. Außerdem habe ich schon mal beim VfB trainiert. Einige Monate lang. Aber wir haben nicht genug Mädchen für eine Mannschaft zusammenbekommen.“

„Du darfst doch nur bei den Mädchen spielen“, sagt René und tippt sich an die Stirn.

„Und außerdem siehst du Christian gar nicht ähnlich, mit deinen langen Haaren“, wirft Johannes, der Torwart, skeptisch ein.

Aber Caroline weiß schon, was sie macht. Auch wenn Mama und Papa unglücklich sind. Der schöne rote Pferdeschwanz – am nächsten Tag ist er ab. Jetzt sieht sie wirklich wie ein Junge aus! Wie Christian! Als Caroline beim Fußballplatz im Mariannenpark auftaucht, ist sie fix und fertig angezogen.

„Christian?“, fragt Oliver ungläubig. „Quatsch, ich bin’s, Caroline. Aber ich hab euch ja gesagt, dass es klappt!“

„Wahnsinn“, staunt nun auch Johannes. „Also, was ist?“, fragt Caroline keck. „Wollt ihr, dass ich mitspiele, oder wollt ihr, dass ich mitspiele?“

„Na klar“, platzt René heraus. „Aber der Trainer darf kein Sterbenswörtchen erfahren. Das ist unser Geheimnis.“

„Logo“, meint Caroline und beginnt sich warm zu machen.

Der Trainer ist nämlich doch noch gekommen. In der letzten Minute! Alle Spieler sind schon auf dem Platz. Er hat einen dicken Schal um den Hals gewickelt, hustet und verbraucht eine Unmenge an Papiertaschentüchern. Toll, dass Christian so schnell wieder auf den Beinen ist, denkt er. Jetzt haben die Jungs wenigstens eine Chance.

Da – der Anpfiff.

Caroline ist heute also wirklich der Mittelstürmer des Post SV.

Aber kann sie auch wie Christian spielen? Dribbeln kann sie gut. Sehr gut sogar.

Wie ein Brasilianer. Sie trickst die Abwehr des TSV Blau-Weiß aus. Immer wieder. Der Post SV hat zwar eine Reihe von Torchancen, doch als Oliver endlich einmal ganz frei vor dem gegnerischen Tor steht, spielt Caroline nicht zu ihm, sondern schlägt noch einen Haken.

Und stolpert.

Der Trainer rauft sich die wenigen Haare auf seinem Kopf. Wieder kein Tor. Zum Glück geht es den Jungen des TSV Blau-Weiß ebenso.

Zur Halbzeit steht es null zu null.

In der Kabine schimpft der Trainer: „Christian, Fußball ist ein Mannschaftsspiel. Wenn ein Spieler frei vor dem Tor steht, gibt man ab!“

Dass die Jungen kichern und glucksen, kann der Trainer nicht verstehen und schaut mit seinen tränenden Augen verständnislos in die Runde.

Was ist bloß los?, denkt er. Die Kinder können sich ja überhaupt nicht beruhigen. So kenn ich sie gar nicht.

Dabei haben sie keinen Grund für ihr Gelächter.

Und so redet er seinen Jungs tief ins Gewissen, bevor er sie wieder auf den Rasen schickt.

In der zweiten Halbzeit gibt Caroline den Ball nun immer ab. Aber ein Tor schießt der Post SV trotzdem nicht.

Es ist wie verhext.

Da! Oliver hat eine tolle Chance.

Doch er trifft nur den Pfosten des gegnerischen Tors. Der Ball kracht gegen das weiße Holz, prallt zurück.

Nur noch eine Minute ist zu spielen.

Eine einzige Minute.

Und noch immer steht es null zu null.

Da wird Oliver im Strafraum des TSV Blau-Weiß umgestoßen. Er liegt am Boden und reibt sich sein rechtes Knie. Es tut höllisch weh. Der Schiedsrichter blickt finster, pfeift.

„Elfmeter!“, jubeln die Jungen des Post Sportvereins. Sie reißen die Arme hoch, machen Purzelbäume.

Aber dann schauen sie sich betreten an. Keiner hat den Mut, den entscheidenden Schuss zu machen.

Es geht um so viel. Um die Kreismeisterschaft. Und die Elfmeter hat sonst immer Christian geschossen. Nur er.

„Ich schieße“, sagt Caroline plötzlich zum Schiedsrichter.

Eiskalt läuft es den Jungen des Post SV über den Rücken.

Caroline will schießen? Spinnt die?

Da liegt der Ball im Gras. Und Caroline steht dahinter.

Oliver schließt die Augen. Und denkt: Mann, oh Mann, was haben wir uns da nur aufgeladen. Die nimmt einen viel zu kurzen Anlauf!

Auch der Trainer steht mit skeptischer Miene am Spielfeldrand. Ob Christian das schafft?

Aber Caroline zirkelt den Ball in das linke obere Toreck.

Mit viel Gefühl.

Ein toller Schuss! Ein Mordsschuss!

Ein Tor?

Aber ja!

Tor! Tooor!

Ein Dutzend Hände zerren an Caroline herum.

Wahnsinn, denkt der Trainer. Christian ist der beste Stürmer. Erleichtert macht auch er einen Luftsprung.

„Spitze!“, brüllt Oliver.

Caroline will jubeln, aber sie kann nicht. Das Glück sitzt in ihrer Kehle wie ein Kloß. Sie ist der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt.

Da – der Schlusspfiff.

Der Post SV hat gewonnen.

In der letzten Minute. In der Schlussminute!

„Toll gemacht, Junge“, lobt der Trainer Caroline und klopft ihr stolz auf die Schulter. Und wieder lachen die Jungen. Sie lachen und lachen. Sie können gar nicht aufhören.

Und am nächsten Tag steht in der Zeitung: „Der Post SV ist neuer Kreismeister – Elfmeter-Tor durch Christian Kielmann.“

Da kann man mal wieder sehen, dass man nicht alles glauben darf, was in der Zeitung steht, würde man jetzt vielleicht sagen. Und ob diese ganze Tauschgeschichte mit der Zwillingsschwester heute noch so durchgehen würde wie damals – auch wenn so lange nun auch wieder nicht her ist – wissen wir nicht. Lustig war es aber schon, auch wenn Caroline doch irgendwie um ihren gerechten Ruhm betrogen wird.

Dennoch viel Vergnügen beim Lesen, einen schönen Sprung in den Februar und bleiben Sie auch im zweiten Monat des neuen Jahres weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Ach, und haben Sie vielleicht eine Ahnung, seit wann es Frauenfußball gibt? Und wer der erste weibliche Fußball-Schiedsrichter in der ersten Bundesliga war?

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