Louis & Louise und das Glück, Begegnung mit einem Schriftsteller und ein Familiengeheimnis – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Um das Glück und seinen ewigen Gegenspieler, das Leid, geht es in dem interaktiven Kinderbuch „Die endlose Geschichte von Glück und Leid. Das interaktive Kinderbuch liest euch vor und bewegt tatsächlich die Figuren. Texte, Illustrationen und Videos von Opa Zausel“.
„Eine lästige Leiche“ – die spielt eine nicht so leichtbeiseite zu schaffende Rolle in diesem Dresden-Krimi von Klaus Möckel.
Stellen Sie sich vor, Sie treffen einen Schriftsteller, der sich in einer Schaffenskrise befindet. Was hilft? Auch diese Frage stellt sich in dem Buch „Mach’s gut, Paul!“, das auch von Gerd Bieker geschrieben wurde und manche überraschende Wendung präsentiert.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Auch wenn es vielleicht nicht jedem so klar ist, auch zu DDR-Zeiten gab es Leute, die sich Sorgen um die Natur und Umwelt gemacht haben und die in diesem Sinne aktiv geworden sind – auch wenn sie nicht immer (oder vielleicht eher selten) die notwendige Unterstützung für ihre teils unabgesprochenen Husarenstücke gefunden haben. Oft haben sie sich Feinde gemacht, aber selbstverständlich auch Freude und Unterstützer. Einen guten Einblick in solche Geschehnisse bietet das heute präsentierte Buch, das nicht lange vor dem Ende des kleineren deutschen Staates veröffentlicht wurde. Und um die Liebe, um die geht es darin natürlich auch:
Erstmals 1987 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Dorflinde“ von Gerd Bieker: In dem Erzgebirgsdorf Greifenhübel wurden die Hecken zwischen den Feldern und die Bäume am Feldweg umgepflügt, damit die LPG mit schwerer Technik die großen Felder bearbeiten kann. Selbst die alte Linde mitten im Dorf sollte weichen. Vier junge Männer mit Michel Mai an der Spitze graben in ihrer Freizeit Baumschößlinge im Wald aus, ziehen Bäume und Hecken, die sie als Windschutz pflanzen und pflegen. Sie ernten von den meisten Spott und Unverständnis. Angespornt von den Erfahrungen seines Großvaters kämpft Michel darum, quer zum Hang zu pflügen, damit der Boden nicht so leicht vom Regen weggespült werden kann. Sein Alleingang hat erst einmal schlimme Folgen. Es finden sich aber auch immer mehr, die die Reden der Alten und die Tatkraft der Jungen ernst nehmen.
Michel hat das hübscheste Mädchen des Dorfes, die frischgebackene Lehrerin Stefanie, zur Braut. Sie will ihn und die anderen Jugendlichen, das gesamte Dorfleben, nach ihren Vorstellungen umkrempeln. Michels Schulfreundin Gisa hat Pech gehabt und sitzt nun mit ihrer süßen, kleinen Tochter Nicoletta allein zu Haus, dem Gerede der Dorfbewohner ausgesetzt. Aber sie gibt nicht auf und arbeitet, um allein für die Tochter sorgen zu können.
Als Michel zur Armee eingezogen wird, erhält er lange Briefe von Stefanie und herzerfrischende Post von Gisa. Aber hören wir erstmal vom Schicksal des titelgebenden Baumes, der zum Jahresende schwer getroffen wird. Es erzählt Michael, Michael Mai:
„1. KAPITEL
1
Drei Nächte vor Silvester fährt der Blitz in die Dorflinde. Der Baum, seit Märchenzeiten auf der Höhe überm Dorf, fängt Feuer. Doch das Brennen verlöscht alsbald im Stürmen des Wintergewitters, das über uns einhergekommen ist wie der wilde Jäger aus der Sage.
Donnerschlag in den zwölf Nächten zwischen Weihnachten und Dreikönige bringt nichts Gutes. So prophezeit mein Großvater väterlicherseits, ein Auskenner in Fragen des Wetters und der Sprüche. „Schreck lass nach! Will es mit der Welt zu Ende gehen? Alles und jedes kommt aus den Fugen …“
Wie stets bei nächtlichen Unwettern ist der alte Vater aufgestanden, hat in der Emaillekanne den Gerstenkaffee gewärmt, die Ofenklappe zugeriegelt und, weiß der Himmel warum, eine Kerze angezündet. Auch mich litt es von klein an bei Gewittern nicht im Bett, ich zog mich an und ging in die Großelternstube hinüber. An diese Stunden, in denen wir in überkommener Blitzfurcht beieinander saßen und im Kerzenlicht bedächtige Gespräche führten, erinnere ich mich gut und gern.
Als wir wieder zu Bett gehen wollen, schlägt unser Hütehund Strolch an, und jemand wummert gegen das Regenabflussrohr. Dreimal – Pause – noch zweimal. Das verabredete Signal für Alarmfälle.
Vorm Hoftor steht im Schneegestöber, eingemummelt in uniformwidrigen Schafpelz, unser Dorfsheriff Richard.
„Tach“, sagt er, obschon Mitternacht ist. Die Grußhand noch an der Mütze, kommt er ohne Umschweife zur Sache:
Ich soll mit dem Traktor die Dorflinde beräumen (wie er sich ausdrückt). Der Baum stehe zwar noch, sei aber zerspellt, so dass er schleunigst von der Straße wegmüsse, aus Gründen der Ordnung und Sicherheit.
„Verdammich, das ist doch unser Wahrzeichen. Wag dir’s, du Zugereister!“, wettert der alte Vater los, der sich aus Neugier zu uns gesellt hat. Für ihn gelten bloß Eingeborene von Greifenhübel; unser Richard stammt aber von der Wasserkante.
Nun klären sie einander auf.
„Im Dorfwappen ist er drin, unser Lindenbaum. Sogar im Poststempel.“
„Jetzt ist er eine Unfallquelle. Was sein muss, muss sein, Mai-Bauer.“
„Dann sperr deine Landstraße. Wird Zeit, wird auch Rat.“
„Den Verkehr in die Kreisstadt lahmlegen? Ich säge mir doch nicht am Aste. Die machen mir die Hölle heiß. Noch Fragen?“
„Wann gibt es im Konsum mal Verstand? Plautzer, du hättest welchen nötig!“
Ich stehe wie bestellt und nicht abgeholt. Versuche Strolch zu beruhigen, der launisch mitraunzt. Dann, kurz entschlossen, drehe ich ab.
„He, wohin?“, ruft der Polizist.
„Meine Sachen holen. Wir rücken hin und werden sehen.“
„Alles klar.“ Erleichtert bläst Richard eine Wolke in die scharfe Luft.
Ich wundere mich: Warum hat er ausgerechnet hier angepocht, wo es im Dorf noch siebenhundert andere Seelen gibt? Vielleicht bloß, weil er mit einem wie mir nicht lange agitieren muss?
Gähnen befällt mich, Gähnen bis zur Maulsperre. Hätte man wenigstens vorher ein Auge zugetan …
Als ich, mit Filzern bestiefelt und warm eingepackt, in den Hof zurückkomme, sind Großvater und Richard noch beim Thema.
„Schieb ab, Polizeier. Wegholzen bringt Pech, das sagt mir meine Ahnung. Zieh meinen Michel nicht hinein“, barmt der alte Vater. Kann er nichts ausrichten, wird er wehleidig und zänkisch, seit es mit ihm über die Siebzig geht. Vieles begreift er nicht mehr.
„Mach halblang, Michael. Nur immer mit der Ruhe.“ Ich runkse ihn leicht mit dem Ellbogen. So pflegen wir’s, wenn wir uns verstehen. Wir nennen uns beim Vornamen, Opa habe ich nur als Wickelkind gesagt. Die Eltern tauften mich ihm zu Ehren, frischten den Michael allerdings zu Michel auf, des Unterscheidens wegen oder weil es moderner klingt.
Mein alter Vater steckt nicht auf. „Warum lässt du nicht deine Feuerwehr antanzen? Nu, dann mach, holz ab, nur zu! Aber das setzt eine Beschwerde! Ich kreide dir das bei den obersten Stellen an!“ Zur Bekräftigung trommelt er mit der Faust auf seine Lammfellweste, die er sommers und winters trägt wie eine zweite Haut. Wenn er sich ereifert, dann versteigt sich mein Großvater leicht zu flotten Verwünschungen.
Der Richard breitet nachsichtig und begütigend die Arme. Er ist von Anfang an bei der Volkspolizei, ein starkknochiger Kerl. Kennt alle Wendungen und weiß, wann er was zu sagen hat und wann ihn das Amt schweigen heißt. So behält er immer das Heft in der Hand. Wir mögen ihn, weil er kein Schulmeister ist wie andere von seiner Gilde.
Räsonierend storcht mein alter Vater zu seinen aufgeschreckt blökenden Lieblingen in das Stallgebäude hinüber. Seinerzeit Mittelbauer und nachmals Rübenzähler bei den genossenschaftlichen Pflanzen und Hühnerfürst bei den Tieren, hat er sich auf seine Rentnertage ganz der privaten Zucht des Ostfriesischen Milchschafes hingegeben.
2
Der Weg zum Garagenhof der Genossenschaft ist kniehoch zugeweht. Richard stampft mit stoßweisen Schnaufern neben mir her. Wenige Jahre vor seiner Polizeirente hat den Mann noch das Asthma erwischt. Wir gehen in einhelligem Schweigen, er braucht sein bisschen Puste zum Vorwärtskommen. Ich bin auf einmal nicht mehr müde. Fällt Schnee, dann werde ich um die Hälfte jünger, versetze mich zurück in meine Kinderwinter: verwegene Skirennen abschüssige Hänge hinunter und im Schulhof Schneeballschlachten, bei denen die Mädchen „eingeseift“ wurden. Ich suchte mir dazu schon in den niedrigen Klassen die Gisa Meixner aus, weil sie so eindringlich kreischen konnte wie eine Kreissäge. Manches Mal lag der weiße Segen in solchen Bergen, dass wir aus den Fenstern springen mussten, weil zur Tür einfach nicht hinauszukommen war. Frau Holle machte das Bett, und das Gebirge zog sich eine dicke Schneedecke über, um seinen langen Winterschlaf zu halten.
Juppdich! Ich schussle aus, messe längelang die Straße. Als ich mich abklopfe, fällt mir die Redensart meines Brigadiers Reißzahn ein: „Kinder und Träumer zahlen doppelte Preise.“ Er hat lauter solche Halbweisheiten stecken, und meistens behält er recht, der Himmelhund.
In diesem Jahr ist der stiebende Schnee für mich eine Sache, die ich beiseite zu schieben habe, straßab und straßauf. Frühmorgens Schlag fünf, lange bevor es tagt, beginnt mein Winterdienst mit dem Schneepflug.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
2021 erschien als Eigenproduktion von EDITION digital „Die endlose Geschichte von Glück und Leid. Das interaktive Kinderbuch liest euch vor und bewegt tatsächlich die Figuren. Texte, Illustrationen und Videos von Opa Zausel“:
Nur einmal kurz den Link mit dem verheißungsvollen Code aufrufen und der kleine Betrachter taucht ein in die Welt des Geschichtenlesens. Nur eben völlig anders, als wir Vorlesen bisher empfunden haben. Während Opa Zausel liest, tummeln sich auf seiner Schreibtischplatte die Figuren aus dem Buch direkt in den Kulissen der Bilder des Buches. Und das kann man sich hier alles selbst anschauen.
So verhexte das Leid die einzige Kuh, um deren Zustand sich die Bauerskinder sorgenvoll kümmerten. Es raubte ein Kleinkind und keine Stadtwache schaffte es, dies zu finden. Das Leid beseitigte fast einen Medicus, der auf der langen Reise zu einem schwerkranken Kind war. Schließlich verbündete es sich mit dem Teufel, um das Glück für immer aus der Welt zu schaffen. Unendlich viel Mühe für das Glück.
In den spannenden Geschichten wird erzählt, ob ihm das gelingt.
Wo wohnt es eigentlich das Glück? Vielleicht im Herzen der Menschen? Immer wenn es sich dort bei dir regt, schlägt dein Herz voller Aufregung und Freude. Spürst du es manchmal? Und so beginnt dieses interaktive Kinderbuch:
„Vom Glück, vom Leid und den beiden Mäusen Louis und Louise. Hinter einer kleinen Wiese, vor einem kleinen Wald, wohnt in einem kleinen Haus das Glück.
Hier erwartet euch Unfassbares:
https://youtu.be/ctyqwiPxfe0
Das Glück hat keine Augen. Trotzdem findet es sich gut zurecht. Man sagt, darum bringt es seinen Segen auch für Menschen, die es vielleicht nicht verdient haben.
Am liebsten isst das Glück Spinat. Deshalb hat es so gute Muskeln. Das Glück verspricht oft Dinge, die es nicht halten kann. Weil es so einen großen Mund hat. Das sollte man eigentlich nicht, aber wie das Glück so ist …
Es ist überall auf der Welt unterwegs, um Glück zu bringen. Ihr könnt es an seinen Stiefeln sehen. Sie sind schon alt und kaputt. Auch für dich hat es schon viel getan. Bestimmt hast du schon öfter Glück gehabt.
Der Feind des Glückes ist das Leid. Man nennt es auch Elend, Kummer oder Not. Das Leid wohnt in einem finsteren Sumpf. Wo genau, weiß niemand.
Das Leid kann es nicht ertragen, wenn Menschen glücklich sind. Es neidet den glücklichen Menschen ihr Glück und will ihnen sein Leid bringen.
Das Leid ist von Natur aus böse. Immer wenn es Glück und Frohsinn wittert, lässt es seinen Raben „Krax“ in die Höhe steigen. Der weist ihm dann seinen Weg dorthin, wo es Böses zu tun gibt.
Darum hütet euch vor ihm und geht ihm aus dem Wege, wo ihr nur könnt.
Diese beiden, das Glück und das Leid, gibt es schon ganz lange. Solange die Menschen denken können!
… und dann sind da auch noch die beiden Mäuse Louis & Louise. Sie machen dumme Sprüche und treiben Schabernack ohne Ende. Louise muss ihren Mäusemann oft zur Vernunft ermahnen – ihr werdet schon sehen. Erkennt ihr es auch, beide lieben so gar keine Hausarbeit!
Louis & Louise schlafen gern richtig lange, essen recht gut und viel. Besonders gern lesen sie im Buch von „Glück und Leid“. Im Sommer immer draußen auf der Wiese vor ihrer Höhle, manchmal tief bis in den Herbst hinein. Ihre wichtigste Eigenschaft ist eine unbezähmbare Neugier. Es gibt kaum etwas, das uninteressant für sie wäre.
Wenn sie dem Glück auf seinen Wegen folgen, wird es manches Mal auch gefährlich. Besonders, wenn es auf das Leid stößt. Dann gibt es fast immer einen Kampf – Gut gegen Böse. Und nicht immer gewinnt das Glück. Nun seid auch ihr neugierig, schaut und hört.“
2015 veröffentlichte Klaus Möckel im Verlag Bild und Heimat Berlin „Eine lästige Leiche. Ein Dresden-Krimi“: Wo steckt diese Person, wie kann ich sie in die Finger bekommen? Während der stadtbekannte Millionär und Bauinvestor Jakob Ahn von Helm, der wegen sehr dunkler Flecken auf seiner Weste erpresst wird, sich mit solch unangenehmen Fragen herumschlägt, plagt den Kleinganoven Hacke ein nicht minder hässliches Problem. Nach einem erfolgreichen Überfall auf einen Dorfladen stellt er fest, dass ihm ein Leichnam untergeschoben wurde. Den muss er jetzt loswerden, was ihm jedoch nicht nur aus technischen Gründen sehr schwer fällt.
Die beiden Fälle haben scheinbar nichts miteinander zu tun, doch der erste Eindruck täuscht. Sie hängen letztlich auf verwickelte Weise zusammen, wobei zwei sexy Girls eine wichtige Rolle spielen, die unterschiedlich raffiniert nach dem großen Geld greifen. Von Helm lässt sich mit zwielichtigen Helfern ein und gerät in noch größere Schwierigkeiten, Hacke fällt von einer bösen Überraschung in die andere. Als eine zweite Leiche übel durch die Geschichte zu duften beginnt, mischt sich schließlich die Polizei ein, und die Handlung strebt gefährlichen Höhepunkten zu.
Klaus Möckel, Autor von „Drei Flaschen Tokaier“, „Hoffnung für Dan“ und „Die Gespielinnen des Königs“ sowie passionierter Schachspieler, wie zu merken ist, lässt seinen neuen, aufregenden Kriminalroman diesmal in Dresden, im Schatten der berühmten Brühlschen Terrasse und der bekannten Elbbrücke, genannt das „Blaue Wunder“, spielen. Er fügt seinem vielfältigen Werk damit eine weitere interessante Nuance hinzu. Und so geht er los, dieser Dresden-Krimi mit den vielen überraschenden Wendungen:
„Erster Teil
1
Als Hacke den Wagen abgestellt hatte und im Schutz des kleinen Wäldchens auf das Gebäude zuschlich, ging ihm plötzlich der Spruch seines Vaters durch den Kopf: Mut zum Risiko. Mut zum Risiko, mein Junge, sonst gewinnst du nie was.
Der Spruch passte zu seinem Vorhaben, allerdings hatte sein Erzeuger es anders gemeint. Er war immer „ehrbar“ gewesen, wie die Mutter betonte. Ein bisschen verrückt, aber „ehrbar“, krumme Touren hatte er stets abgelehnt. Im Gegensatz zu mir, dachte Hacke und spürte das Schießeisen in seiner Tasche.
„Ehrbar“, na gut – bloß, was hatte es dem Alten gebracht. Extremsportler nannte er sich, war nach der Wende an den Küsten Portugals, Italiens, Mexikos herumgeturnt und von den Klippen gesprungen, wollte damit die große Kohle machen. Aber er blieb einer aus der dritten Reihe, und wahrscheinlich hatten ihn die Geldgeber noch um seine Prämien beschissen. Was übrig war, hatte er in neue Projekte gesteckt, das Risiko noch höher geschraubt. Bis es dann echt zu hoch war und der Sprung schief geriet. Mit dem Schädel voran in den Tod. Er hatte den Felsen zwar nur gestreift, aber bei diesem Kopfüber reichte das.
Es knackte im Gebüsch, und Hacke hielt argwöhnisch im Schritt inne. Aber alles blieb still, ein Tier vielleicht, das sich nun ängstlich ins Gras duckte. Ich tu dir nichts, dachte der Mann, wenn auch du mich in Ruhe mein Ding tun lässt. Mit der Hand nach der Pistole tastend, ging er weiter.
Hackes Vater war damals Anfang dreißig gewesen, nur wenig älter als er jetzt, doch er sah jünger aus. Was für ein Body! Schwamm drüber, es war schon eine Ewigkeit her und tat nicht mehr weh. Zumal er ihn als Kind kaum zu sehen bekommen hatte. Ständig unterwegs, ständig woanders, er kannte die Küsten bestimmt besser als seinen Sohn. Na gut, das lag an der Abstammung, er kam aus Wismar oben an der Ostsee, während die übrige Familie ihre Wurzeln im Mitteldeutschen hatte.
Nicht viel war Hacke von seinem Vater geblieben, außer ein paar Fotos und diesem Spruch, der sich ihm jetzt wieder mal aufgedrängt hatte. Zur Situation passend, doch zum falschen Zeitpunkt. Weg mit den Gedanken, er musste sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Zumal es kein großes Risiko gab, die Sache war klar und sicher. Mut ja, den brauchte man, und er hatte ihn zusammennehmen müssen, um sich endlich aufzuraffen. Immer wieder hatte er gezögert, auf eine noch bessere Gelegenheit gewartet. Doch eine bessere Gelegenheit, an die Kohle zu kommen, gab es nicht. Und er brauchte das Geld!
Denn Hacke hatte Schulden. An die dreitausend Euro, weil er sich beim Wetten verzockt hatte, bei einem Mann namens Detlef Baum, genannt der „Direx“. Automaten und Karten, er liebte beides und konnte die Finger nicht davon lassen. Was sollte man aber auch machen, wenn man keine Arbeit fand. Keine jedenfalls, bei der man nicht für ein paar jämmerliche Kröten von morgens bis abends malochen musste. Zwei-, dreimal hatte er sogar schon gewonnen, einmal mehr als siebentausend Eier, aber das war bald wieder weg gewesen. Nun jedoch wollte der Direx nichts mehr rausrücken, im Gegenteil, er verlangte seine Dreitausend zurück. Obwohl das für ihn eine lächerlich kleine Summe war. Sonst würde er seine Jungs vorbeischicken, und die Jungs, das waren finstere Kerle, Muskelprotze, Brutalos, richtige Knochenbrecher. Nein, darauf durfte er sich nicht einlassen.
Inzwischen hatte Hacke das Gebäude erreicht. Er zog die Maske mit den Augenschlitzen aus der Tasche. Der Shop, die „Siedlerkiste“, lag am Ende des Ortes und hatte alles im Angebot, was die Leute auf die Schnelle brauchten. Das ging von Lebensmitteln, Getränken und Zigaretten bis zum Kochtopf und der Küchenuhr. Okay, damit machten die noch keine großen Geschäfte, auch nicht mit den Socken und Handtüchern, die in den Regalen lagen, aber es gab ja noch die Schuhe und die Kleidung, die ein bisschen mehr brachte, die Kosmetik, die Handys, den Gartenbedarf, die Kleinmöbel und vor allem den Klimperschmuck, der den Frauen gefiel. Wobei das Besondere die Handarbeit war: Ketten, Ringe, aber auch Stühle und Tischchen wurden von Handwerkern oder Künstlern der Umgebung gefertigt, die sich auf den Geschmack der Leute verstanden. Deshalb kam mancher Kunde aus den umliegenden Dörfern gern hierher, anstatt nach Dresden zu fahren, wenn er ein Geschenk, ein besonderes Stück für Haus und Garten suchte.
Der Laden brummte also, und heute, am Freitagabend, hatte er länger geöffnet. Jetzt, kurz vor neun, war allerdings, wie erhofft, nicht mehr viel los. Hacke beobachtete den Eingang. Ein Kunde verließ das Geschäft – wahrscheinlich der letzte an diesem Tag –, und gleich würde der lange, wuselige Verkäufer den Shop schließen.
Es war dunkel und regnerisch, die Dorfstraße menschenleer. Hacke streifte die Arbeitshandschuhe und die Maske über, holte die Pistole aus der Tasche. Er spähte durchs Schaufenster – nur der Verkäufer, mit einem Schlüsselbund in der Hand, war zu sehen. Sobald er drin fertig war, würde er die Rollläden herunterlassen und die Alarmanlage aktivieren. Sie hatten sich abgesichert, auch wegen der nahen Grenze.
Ein letzter Blick Hackes die unbelebte Straße hinab, dann öffnete er mit einem Ruck die Tür. „Das ist ein Überfall“, sagte er mit krächzender Stimme, ein Ton, der drohend und fremd klingen sollte, er hatte ihn eingeübt. „Wenn du meinen Anordnungen folgst, passiert dir nichts!“
„Was … wo… wollen Sie?“, stotterte der Mann erschrocken.
„Schließ die Tür ab, und lass die Rollos runter. Aber Vorsicht, keine Alarmknöpfe. Die Hübsche hier ist geladen!“ Ein Wink mit der Pistole dirigierte den Verkäufer zur Vorderfront.“
Erstmals 1980 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Mach’s gut, Paul!“ von Gerd Bieker: Eigentlich wollte Paul in den Winterferien lernen. Aber daraus wird nichts, denn er begegnet der kessen Bärbel, die seine Freundin wird, und dem Schriftsteller Conrad Häwel, der von ihm lernt. Aber bis zu ihrer ersten Begegnung dauert es zunächst noch eine kleine Weile:
„1
Paul Wenzel stiefelt den Weg vom Ferienheim zum See hin, die Fäuste erbittert in die Manteltaschen gestoßen.
Er hat der Wissenschaft den Rücken gekehrt.
Paul schreitet über den Badestrand für die FDGB-Urlauber und betritt dann den See. Geht drüber hin wie der religiöse Wundermann und Wassertreter Jesus in Omas dicker Bilderbibel. Doch Pauls Wunder ist erklärbar: Es ist Februar. Ein ziemlich strenger Februar sogar, der das Wasser einen viertel Meter hinab zugefroren und den See stabil gemacht hat von Ufer zu Ufer.
Eine eisblaue, glattgefegte Fläche weitet sich vor dem Jungen. Paul atmet wie eine alte Lok Dampfwolken aus, die sich auf dem Webpelz seines hochgeklappten Mantelkragens als feiner Reif kristallisieren. Im Radio hatte er gehört, es sei der kälteste Tag dieses Winters.
Paul weiß nicht, wie spät es ist. Das trübe Winterlicht lässt nicht ahnen, wie hoch oder wie tief hinterm Schneehimmel die Sonne hängt. Aber dem Jungen, der verdrossen übers Eis rutscht, ist der momentane Sonnenstand egal, er hat weder Zeitgefühl noch Hunger, sondern hat, wie man so sagt, die Faxen dicke.
Vor acht Tagen war Paul Wenzel mit einem Rucksack voller Schulbücher im Ferienheim angereist, in dem seine Mutter ihre Urlaubswochen vom vorigen Jahr verbringt. Weil sie nicht nein sagen kann, hat sie sich als Aushilfsköchin anwerben lassen. Paul wollte in den drei Winterferienwochen lernen, lernen und nochmals lernen, obwohl dieser Februar den schulmüden Kindern allerschönstes Mützenwetter bescherte, Pulverschnee in Hülle und Fülle und blankes Schlittereis. Und obwohl im Heim eine gewisse Bärbel vorhanden ist, die Kulleraugen hat und ihn etwas interessiert.
Eine volle Woche lang hat Paul den Härtetest der Gelehrsamkeit durchgestanden, denn er will später als Baumaschinist ganz hoch hinaus. Er will unbedingt auf einen apfelsinenroten Schwenkkran und Häuserschachteln montieren. Zum einen hat Paul gehört, was man dort verdienen kann: mehr als das Doppelte dessen, was seine Mutter monatlich aus der Lohntüte holt, und zum anderen glaubt er, dass er diese Arbeit mit Lust und Liebe verrichten wird.
Nicht etwa, dass es in der Schule schlecht um ihn stünde. Im Halbjahreszeugnis wird ein guter Durchschnitt bescheinigt. Aber gleichzeitig mit der Bemerkung des Klassenleiters, dass Paul Wenzel bei entsprechender Zielstrebigkeit seine Leistungen wesentlich steigern könne.
Paul ist weder aufs Glatteis gegangen noch Bärbels Zöpfen nachgestiegen. Er hat sich stattdessen über die verschlüsselte Grammatik gebeugt und über den pythagoreischen Lehrsatz, hat den Klassenkampf gebimst und sich in die glitschigen Formellabyrinthe der organischen und anorganischen Chemie gewagt.
Doch heute, am neunten Tag, als er trotz wer weiß wie vieler Anläufe noch immer nicht hinter den wunderbaren Zusammenhang einer Dissoziationsgleichung gestiegen ist, bei der eine molare Masse Kalziumchlorid in nichts weiter dissoziiert als volkstümlich gesagt in ein zweifach positiv geladenes Kalziumkation und zwei einfach negativ geladene Chloridanionen, heute hat Paul Wenzel die Hefter und Schulbücher zugeschlagen, unters Bett geschoben und ist hinausgelaufen, den geplagten Kopf auszulüften.
Der Schriftsteller Conrad Häwel brütet in einem Gastzimmer des Schriftstellerheimes über dem noch nicht geschriebenen Teil eines neuen Kinderbuches.
Im Schriftstellerheim kann man in aller Ruhe arbeiten oder sich erholen, je nachdem, was man schon geschafft beziehungsweise geschaffen hat.
Conrad Häwel knaupelt am Mundstück seiner erkalteten Pfeife. Putzt sich an die dreißigmal die Nase, obwohl er keinen Schnupfen hat. Trabt in seiner schmalen Stube hin und her und vor und zurück wie ein Bär im Käfig. Stößt Wörter aus und abgerissene Sätze. Gestikuliert beschwörend. Er arbeitet.
Er starrt auf das eingespannte Blatt in seiner Schreibmaschine, auf dem bis jetzt nur die Seitenzahl steht: 106. Er hatte gestern die Schnapszahl 111 geschafft und anlässlich des Ereignisses einen gepichelt, aber die sieben Seiten hat er heute wieder weggeworfen. Seinen Papierkorb muss das Mädchen, das die Zimmer sauber macht, jeden Tag leeren.
Conrad Häwel hat eine schriftstellerische Krise, obwohl er im besten Dichteralter steht: Er ist fünfundvierzig.
Häwel weiß genau: Solche Tage wie heute, wo er an sich und seiner Arbeit zweifelt, behüten ihn vor oberflächlichem Geschreibsel. Das ist ihm schon bei allen seinen Büchern passiert. Immer wenn er die erste Hälfte heruntergeschrieben hatte, packte ihn der Rappel. Dann wollte er das Manuskript zerreißen. War fix und fertig.
Doch irgendwas ist diesmal anders. Häwel fühlt sich wie ausgebrannt. Nicht das geringste Fünkchen glimmt in ihm. Er lässt sich sein ganzes Kinderbuch noch einmal durch den Kopf gehen, übrig bleibt eine abgedroschene Geschichte. Die Figuren sind konstruiert, das gab’s doch schon hundertmal. Die Sprache holpert. Fast alle Pointen sind Witze aus’m Notizbuch.
Häwel erblickt sich bei seiner rastlosen Wanderung durch die Arbeitsstube plötzlich im Spiegel. Er verhält den Schritt und betrachtet sich.
„Du Schöps!“, sagt er.
Dann lächelt er rätselhaft und macht sich in aller Gemütsruhe zum Ausgehen fertig. Wirft sich den bulgarischen Schafspelz um, drückt die sibirische Zobelschapka über die Ohren, verstaut sein Rauchzeug in den Taschen und zieht die zottigen Eskimostiefel an. So ausgerüstet und nach einem letzten Blick auf seine treu ergebene, stumme Schreibmaschine wendet er sich zur Tür.
Überaus respektvoll geht Häwel an dem bärengroßen Wachhund vorüber, einem Neufundländer, der sich, heißt es, schon an Brief- und Nationalpreisträgern vergriffen hat, der aber jetzt friedlich auf der Haustreppe liegt und zu ihm hochsieht wie der alte Churchill.
Conrad Häwel stapft aufs Eis hinaus.
Stramm bläst er in die angriffslustige Kälte. Sein ergrauter Bart bereift sich sacht mit Polarweiß.
„Zu deinen Zeiten möcht ich gelebt haben, Brüderchen Amundsen!“
Paul Wenzel nimmt Anlauf und schlittert flott und elegant ein paar Meter weit.
Man müsste sich mal wieder mit irgendeinem so richtig ausquatschen können, denkt Paul. Ich fange schon an, Selbstgespräche zu führen wie der hiesige Dorftrottel Benno Schlüssel, der sich einbildet, er wäre von der Interpol, und den die Leute Lieutenant Nachschlüssel nennen. Aber wen kenne ich hier schon? Mutter hat auch kein Gehör mehr, seit sie sich wieder einen Mann in den Kopf gesetzt hat.
Angesichts des Eises beruhigt sich langsam das gereizte, überarbeitete Nervensystem des Schriftstellers. Die Stille der Natur schleicht sich zag auch in seine Seele.
Conrad, denkt Häwel, du müsstest mit jemandem reden. Was dir fehlt, ist Kommunikation.
Hinter dem Uferwald hört er irgendeinen Laster entlangbrummen, und in der Nähe des jenseitigen Ufers entdeckt er ein paar eishockeyspielende Musketiere, deren eigenes Anfeuerungsgeschrei deutlich herüberschallt: „Abgeben, du müde Lusche, gib endlich ab!“
Da kommt einer angeschwirrt, ein stämmiger, hochgeschossener Bursche mit Bommelmütze und himbeerroten Gummistiefeln. Schlittert rasch näher. Steuert zielsicher auf Häwel zu.
Hat denn der Junge keine Augen im Kopf?
Paul, aus seiner Gedankenwelt aufgetaucht, will sich noch mit einem scharfen Hasenhaken aus der Schussbahn flanken, doch sein Schwung ist nicht zu bremsen. Er rennt gegen den bepelzten Mann.
Häwel ist zum Glück standfest.
Paul schießt noch ein paar Meter seitlich weg wie eine an die Bande geprallte Billardkugel, ehe er sich zum Stehen bringen kann.
„Pardon“, murmelt er, „aber ich hatte die Vorfahrt.“
„Ich spreche nur in Gegenwart meines Rechtsanwalts“, sagt Häwel, nachdem er sich vom Schreck erholt hat, und lacht los über seinen Witz.“
Erstmals 1978 erschien ebenfalls im Verlag Neues Leben Berlin „Eiserne Hochzeit“ von Gerd Bieker: Sabines Urgroßeltern, das Fanny-Muttchen und der Nickel-Opa, feiern in dem Erzgebirgsdorf Greifenhübel ihre Eiserne Hochzeit. 65 Jahre mit allen Höhen und Tiefen haben die beiden alten Leute gemeistert und dabei noch Sabine großgezogen, über deren Eltern nicht gesprochen werden darf. Aber warum? Das möchte Jan, der mit Sabine als Sozia auf seinem Motorrad nach Greifenhübel unterwegs ist, natürlich gern wissen. Aber erfahren wird er das erst viel später. Jetzt sind die beiden erstmal zu dem großen Fest unterwegs:
„Im ersten Kapitel erzählt Jan Sonntag, wie er mit seinem Mädchen Sabine Zeisig nach Süden ritt
Gegen Mittag, als die Hitze über den Feldern wie ein feiner Vorhang waberte und der Asphalt in der Ferne zu glitzern begann, drehte ich das Gas so auf Sparflamme, dass meine urige Maschine aus Zschopau, die es in guten Stunden glatt auf hundertdreißig brachte, das langsamste Gefährt straßauf und straßab wurde, ausgenommen Heuwagen, Fahrräder und Mopeds älterer Bauart.
Allah sei Dank! rief das Bienchen, das mir hinten aufsaß. Die schöne Welt kriegt mich unversehrt wieder.
Das Bienchen hatte schon hundert Meter nach dem Start im Spreewald meine zügige Fahrweise einen halsbrecherischen Irrsinn geschimpft. Und als ich auf freier Strecke etwas aufdrehte, hatte es mir zur Warnung die lateinischen Namen von Knochen, die wir uns brechen könnten, in mein schaumledergeschütztes Ohr geschrien. Tibia, Humerus, Ossa nasalia und alle diese Sachen.
Obwohl Sabine zum ersten Mal in ihrem Krankenschwesternleben auf einem Motorrad fuhr, war bereits jetzt abzusehen, dass sie dem Blitzschnellen ganz und gar keinen Geschmack abgewinnen konnte; sie würde nie erahnen können, welches Gefühl die Seele durchzieht, wenn man mit singendem Zweitakter die Ferne erfährt.
Schade drum, immerhin war sie das erste derartige Mädchen auf der Sitzbank der Lokomotive. Den bisherigen ausnahmslos – der auf Motorrennen versessenen Silvia oder der hochtourigen Marion nur mal beispielsweise – waren die Stunden mit hundert Kilometern immer die liebsten gewesen.
Ein Düsenflugzeug jagte der Umdrehung des Planeten nach. Es malte einen lichten Streifen an den Himmel. Ich sah ihm mit schmal zusammengekniffenen Augen nach, und ein unbewusster Reflex ließ mich mit Handgelenkdrehung die Maschine wieder antreiben, dass die Tachonadel nach rechts wippte, auf der Achtzig federte und das angehängte Gepäckwägelchen ins Springen kam.
Mir war, als könne ich mich samt Sabine zu diesem zerwölkenden Band emporschwingen – schuldbewusst horchte ich, ob sie wieder begänne, ihr böses Katastrophenlatein herzubeten. Aber sie drückte sich nur an meinen Rücken, schmiegte im Windschatten ihre Wange an die glatte, kühle Haut meiner zwiebelfarbenen Lederjacke.
Ich legte wieder den Zuckelgang ein.
Heiliger Robert, warum musste ich mir ausgerechnet diese Zimperliese aufladen?
Interessante Geschichte, die Sache mit den menschlichen Temperamenten, sagte ich über die Schulter. Für die einen bedeutet richtig leben: Tempo aus dem Vollen. Und die anderen sind die Bremser.
Für uns, brüllte sie zurück, bedeutet dein Tempo aus dem Vollen fürs nächste Vierteljahr vor allem Gips, Idiot!
Die ist wohl nicht ganz bei Troste! murmelte ich, drückte den Kopf zwischen die Schultern und schimpfte noch ein bisschen leise für mich.
Eine Vorbeugungssamariterin aus Berufung, na Hilfe.
Wir fuhren in Zugvogelrichtung, dem Gebirge zu.
Es war ihr Vorschlag gewesen, nicht stracks und glatt auf der Autobahn zu donnern, sondern die Lausitz auf Landstraßen zu erobern. Sie wolle wenigstens einen Happen schöne Gegend genießen, wenn sie sich nun schon einmal diesem lärmenden Geschoss anvertraue.
Was war denn schön an dieser Gegend?
Überlandleitungen zerschnitten die Landschaft geometrisch. Ferne Fabriken schmauchten Qualmhorizonte an den pastellblauen Himmel. Und die Dörfchen, die brav in regelmäßigen Abständen auftauchten, glichen einander wie Eier in der KIM-Packung: jedes mit einem Ludwig-Richter-Kirchlein und einem weidenbesäumten Ententeich. Mähdrescher schoren in exakter Staffelung die Getreideflächen kahl. Dazwischen in Reihen getrocknetes Grummet – einstige Blumenwiesen waren jetzt zeilenüberzogene Heufelder, wie im Schreibheft. Und im Kiefernwald hingen unter den Risstätowierungen an den Stämmen die Harztöpfe ziemlich in gleicher Höhe und boten das akkurate Bild einer aufgeräumten Küche. In Zahlen waren die Pflanzen und Tiere entsprechend dem Statistikplatz ihrer Nützlichkeit eingeteilt worden vom Menschen, der sich einst aus ihnen emporgearbeitet hatte, um die Natur zu verändern. Hier machte er das verdammt gründlich. Ich träumte manchmal von den wilden, nadelgrünen Wäldern Finnlands, wie ich sie in Helsinki auf den glänzenden Luftbildpostkarten gesehen hatte. Mir wurde es wie bei Musik von Sibelius, wenn ich an die flimmernden Seenaugen im dunklen finnischen Waldpelz dachte …
Das Mädchen hinter mir aber, das fand immer wieder was an den wohlgeordneten übersichtlichen Gegenden, die wir durchbummelten.
Was kannte die schon von der Welt!
Ernst wie eine Prozession zog eine Schafherde die Straße entlang. Der junge Hirt brachte abseits auf einem Stoppelfeld seiner Liebsten das Motorradfahren bei. In engen Kreisen stuckerte die Maschine um den Schäfer herum, der zwar mit dem Krummstab bewehrt war und mit silberbenagelten Ledergurten, wie es der Brauch verlangte, der aber statt des breitkrempigen Hütehutes eine Fidel-Castro-Mütze mit Kinnriemen trug. Das Mädchen quietschte in fröhlichem Entsetzen wie im Luftschaukelkahn auf dem Rummel. Belfernd jagten die Hunde hinterher.
Schäferstündchen, sagte Sabine.
Hupend kurvte ich im Zickzack durch die Herde. Die Schafe wichen träge zur Seite, ohne sich umzusehen. Ein Motorrad mehr oder weniger – das störte sie überhaupt nicht. Dem Bienchen, das ihnen im Vorbeifahren die Wolle streichelte und ausdrucksvoll blökte, wandten sie zwar die Schafsköpfe zu, glotzten aber ohne jegliches Interesse.
Sabine sagte, ich möge mich sputen, weil sie Hunger habe wie ein Wolf. Sie heulte mich so grauslich an, wie wahrscheinlich ein ausgehungerter Wolf heulen musste – und erlebte in schweigsamem Triumph, dass die Schafe sofort auseinanderstoben.
Was denn nun, langsam oder schnell? fragte ich geduldig.
Drücke auf die Tube, sagte Sabine entschlossen. Kohldampf. Ich bin erst wieder ein Mensch, wenn ich was gegessen habe.
Meine Fünfgangflinte und ich, wir lebten auf. Doch durch Dresden jockelten wir dann im Schneckentempo, Sabine war immer nur durchgefahren. Eine Ehrenminute stoppte ich vorm Goldenen Reiter, fuhr übern breiten Fluss, der sich träge wichtig tat, und hielt nochmals vor der monumentalen Kitschmoschee der Zigarettenfabrik mit dem Minarettschornstein. In einer Schnellimbissgaststätte aßen wir lauen Römerbraten und knackheiße Würstchen und Eiersalat mit gelber, geronnener Mayonnaise. Dazu tranken wir viele Becher Himbeerlimonade, weil die aus einem Automaten floss, an dessen Knöpfen das Bienchen hantierte, bis mein Kleingeld versiegt war. Dann zog sie ihre Geldkatze aus ihrer Folkloretasche, schüttelte sie am Ohr, dass die Groschen tschinellten, steckte sie aber nach kurzem Zögern wieder ein. Sparsam war sie auch noch!“
Was sie dort wohl erwarten wird – in Greifenhübel? Und was wird die Familie von Jan denken, den Sabine mit nach Hause bringt? (Er ist übrigens der erste junge Mann, mit dem sie solches tut.) Und was denken die beiden voneinander? Das wird von Kapitel zu Kapitel ein bisschen klarer, zumal abwechselnd aus Sicht von Jan und von Sabine erzählt wird. Und irgendwann wird auch ein großes Familiengeheimnis gelöst.
Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen März und bleiben Sie vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
Waren Sie eigentlich schon mal im Erzgebirge, vielleicht sogar in Greifenhübel? Dort wohnen interessante Leute. Das jedenfalls können Jan und Sabine sicherlich bestätigen …
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