Wenn Jucken chronisch wird, leiden Körper und Seele
Wenn es irgendwo am Körper juckt, ist das eine wichtige Warnfunktion – vielleicht ist es ein Fremdkörper (Insekten oder Parasiten) oder ein schädlicher Kontakt mit einem Pflanzenbestandteil, auf den es zu reagieren gilt? Ein akuter Juckreiz ruft eine Juckempfindung und das Verlangen hervor, sich zu kratzen. Der Juckreiz, medizinisch Pruritus genannt, kann aber auch langanhaltend sein. Nach über sechs Wochen sprechen Medizinerinnen und Mediziner von chronischem Pruritus (CP). „Manche Menschen werden beim Thema Jucken sofort an die Haut denken, an Neurodermitis oder Schuppenflechte. Pruritus ist aber ein fachübergreifendes Leitsymptom zahlreicher Erkrankungen“, erklärt Professor Dr. med. Dr. h. c. Sonja Ständer, leitende Oberärztin an der Klinik für Hautkrankheiten des Universitätsklinikums Münster (UKM) und Leiterin des „UKM Kompetenzzentrum Chronischer Pruritus“. Der chronische Pruritus kann auch Symptom eines Diabetes mellitus oder eines chronischen Nierenleidens sein. Er kann bei einer Eisenmangelanämie oder aber im Zusammenhang mit Infektionen wie HIV oder Herpes Zoster (Gürtelrose) auftreten. „Pruritus ist eine interdisziplinäre diagnostische und therapeutische Herausforderung und es ist daher sinnvoll, das Symptom chronischer Pruritus unabhängig von der Grunderkrankung in den Blick zu nehmen“, betont Ständer.
Unter anhaltendem Juckreiz bei verschiedenen zugrundeliegenden Erkrankungen leiden in Deutschland etwa 13 bis 17 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Nur die Hälfte von ihnen erhält eine kontinuierliche ärztliche Betreuung und nur sieben Prozent eine Therapie. [1]
Um die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit chronischem Pruritus zu verbessern, hat eine interdisziplinäre Gruppe von Fachleuten nun die seit 2005 bestehende Leitlinie aktualisiert. [2]
„Aus zahlreichen Studien ist bekannt, dass CP mit einem erheblichen subjektiven Leiden einhergeht“, betont Ständer, Koordinatorin der Leitlinie. Für viele Menschen ist der Juck-Kratz-Zirkel ein Teufelskreis, der Entzündungen aufrechterhält, immer wieder zu Blutungen, Krusten und Narben führt. Die Krankheitslast der Betroffenen äußert sich in Schlafstörungen, Ängsten, Depressivität, niedrigem Selbstwertgefühl und dem Erleben von Stigmatisierung. Die Folgen können sozialer Rückzug, Depression oder sogar Suizidalität sein. „Die Leitlinie empfiehlt ausdrücklich, die subjektive Belastung und die psychischen Auswirkungen der Patientinnen und Patienten für Diagnose und Therapie zu erheben“, sagt Ständer.
„Betroffenen empfehlen wir, ein Symptomtagebuch zu führen. Das gibt es mittlerweile auch in App-Form. Die so gesammelten Informationen erleichtern es dann im Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt, die richtigen Therapieentscheidungen zu treffen, und sie sind optimal für die Verlaufsbeurteilung“, ergänzt Professor Dr. med. Silke Hofmann, Chefärztin des Zentrums für Dermatologie, Allergologie und Dermatochirurgie, HELIOS Universitätsklinikum Wuppertal und Beauftragte für die Öffentlichkeitsarbeit der DDG.
„Es gibt keine allgemeingültige, einheitliche Therapie von CP, da es eine hohe Diversität der
möglichen zugrundeliegenden Ursachen und der unterschiedlichen Patientenkollektive gibt“, sagt Ständer. Es sollten also individuelle Therapiepläne erstellt werden. In der Leitlinie geben die Tabellen 12-19 einen Überblick über evidenzbasierte, symptomatische Therapieempfehlungen, die aus Phototherapie, topischen und systemischen Medikamenten bestehen.
Auf der Basis von Fallberichten und Studien bei der Prurigo nodularis, einer Hauterkrankung, die durch juckende Hautknötchen, v.a. an den Extremitäten, gekennzeichnet ist, kommt die Expertengruppe zu einigen neuen Empfehlungen. Als systemisches Immunsuppressivum kann Cyclosporin A zur Therapie bei chronisch nodulärer Prurigo empfohlen werden und Methotrexat sowie Azathioprin können als Therapie erwogen werden. Thalidomid/ Lenalidomid wird nicht empfohlen. Das Biologikum Dupilumab kann zur Therapie bei chronisch nodulärer Prurigo (derzeit noch off-label) ebenfalls erwogen werden.
„Die Umsetzung der Empfehlungen wird bei den Patientinnen und Patienten zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen. Vor allem der fachübergreifende Ansatz und die Mitarbeit von Expertinnen und Experten aus anderen Fachgesellschaften werden helfen, diese wichtigen Inhalte weit zu verbreiten“, fasst Hofmann zusammen.
Die Leitlinie richtet sich an Expertinnen und Experten aus den Fächern Dermatologie, Allergologie, Nephrologie, Hämatologie, Gastroenterologie, Innere Medizin und Psychosomatik, die in der ambulanten, tagesklinischen und stationären Versorgung und dem Rehabilitationsbereich tätig sind. Aber auch für Gynäkologie, Pädiatrie und Allgemeinmedizin können die Empfehlungen hilfreich sein.
An der S2k-Leitlinie waren insgesamt 17 Fachgesellschaften und Organisationen beteiligt. Patientinnen und Patienten wurden über Fokusgruppen eingebunden.
Literatur:
[1] Ständer S, Schäfer I, Phan N Q, Blome C, Herberger K, Heigel H, Augustin M. Prevalence of Chronic Pruritus in Germany: Results of a Cross-Sectional Study in a Sample Working Population of 11,730. Dermatology 2010;221:229–235. DOI: 10.1159/000319862
[2] Ständer S et al. S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie des chronischen Pruritus. (AWMF-Register-Nr.: 013-048) 2022.
Tipps für Patientinnen und Patienten:
Symptomtagebuch führen:
z.B. mit der ItchyApp, von Hippokrates IT, Google Android und Apple iOS, gratis https://hippokrates-it.de/ItchyApp.html
Hinweise auf weitere Apps: https://link.springer.com/article/10.1007/s00105-020-04603-5/tables/1
Strategien für das Durchbrechen des Juck-Kratz-Zirkels durch das Einüben alternativer Verhaltensweisen:
- Haut beim Jucken prinzipiell zuerst mit kühlenden und juckreizlindernden Lotionen, Cremes oder Salben eincremen, statt sie zu kratzen.
- Das Kratzbedürfnis umleiten: Anstatt die Haut zu kratzen, Bettdecke, Kissen oder Sofa „malträtieren“.
- Körper und Seele entspannen durch autogenes Training, progressive Muskelentspannung oder Akupunktur.
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