Gemeinsame Befragung von DIHK, MedicalMountains und SPECTARIS zur Umsetzung der EU-Medizinprodukteverordnung
Erste negative Auswirkungen auf Versorgung und Industrie
Ob chirurgische Instrumente, Produkte der Orthopädie oder Seh- und Hörhilfen: Viele Medizinprodukte werden als Folge der neuen EU-Verordnung für Medizinprodukte schon jetzt vom Markt genommen, zahlreiche weitere werden spätestens 2024 verschwinden. Die Vielfalt an Produkten in Europa droht kleiner zu werden, in einigen Fällen werden sich keine Alternativen am Markt finden lassen. Zu diesem Ergebnis kommt eine gemeinsame Befragung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) mit MedicalMountains GmbH und dem Deutschen Industrieverband SPECTARIS, für die 378 Hersteller von Medizinprodukten nach Geltungsbeginn der Europäischen Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation – MDR) ihre Antworten abgegeben haben.
Die MDR gilt seit dem 26. Mai vergangenen Jahres verbindlich für die Hersteller von Medizinprodukten in der EU. Durch sie wurden jahrzehntelang etablierte Prozesse des Inverkehrbringens und der Bereitstellung von Medizinprodukten auf dem Markt abgelöst.
„Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass die MDR für die Hersteller von Medizinprodukten an vielen Stellen nicht praxistauglich ist“, sagt Martin Leonhard, Vorsitzender der Medizintechnik bei SPECTARIS. Zahlreiche Bestandsprodukte werden vom Markt genommen – und zwar in allen der 21 abgefragten Anwendungsgebieten. In 16 Anwendungsgebieten beziehungsweise Produktgruppen streicht mindestens die Hälfte der darin tätigen Unternehmen einzelne Produkte, ganze Produktlinien oder gar komplette Sortimente, wie zum Beispiel in der Orthopädie oder bei den klassischen chirurgischen Instrumenten. „Stehen aber bestimmte Nischenprodukte für die medizinische Versorgung nicht mehr zur Verfügung, könnte das zu einem vermehrten Einsatz von Produkten führen, die für diesen Zweck nicht zugelassen sind“, so Leonhard weiter. „Ganz abgesehen von einer schwierigen Versorgungslage, denen bestimmte Patientengruppen, wie etwa Kinder ausgesetzt sind.“
Die Umfrageergebnisse zeigen zudem negative Auswirkungen der MDR auf die Innovationstätigkeit der Betriebe: „Bei fast jedem zweiten Betrieb (46 Prozent) liegen Innovationsprojekte aufgrund der MDR auf Eis,“ erklärt der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks. Ein Fünftel der Unternehmen (19 Prozent) weicht bei der Erstzulassung ihrer medizintechnischen Innovationen aufgrund der MDR auf andere Märkte, wie etwa die USA oder Asien aus. „Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie entscheidend eine leistungsfähige Gesundheitswirtschaft nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht ist. Die Politik muss daher den Erhalt der Wettbewerbs- und Innovationskraft der Medizintechnik-Branche stärker in den Blick nehmen – das hat positive Effekte auf die Gesundheitsversorgung in der EU“, betont Dercks.
Weiterhin erschweren strukturelle Probleme die Implementierung des kompletten MDR-Systems. Die Zusammenarbeit mit den sogenannten „Benannten Stellen“, die für den Marktzugang von Medizinprodukten notwendig sind, ist erheblichen Hindernissen ausgesetzt. Die Firmen verzeichnen nicht nur deutliche Kostensteigerungen von durchschnittlich 100 Prozent bei der Einbindung einer Benannten Stelle, sondern auch eine deutliche Verlängerung der Bewertungsverfahren, die sich zeitlich mehr als verdoppeln. In der Folge verzögert sich die Bereitstellung der Produkte massiv. Insbesondere den kleinen Unternehmen bereiten die hohen Zertifizierungskosten große Schwierigkeiten. „Neben Kosten und Dauer sind es auch die fehlenden Kapazitäten bei den Benannten Stellen, die grundsätzlich als großes Hindernis in Hinblick auf die Zusammenarbeit genannt werden“, sagt Julia Steckeler, Geschäftsführerin der MedicalMountains GmbH. „Zum Zeitpunkt der Befragung waren EU-weit noch immer weniger als die Hälfte der ursprünglich geplanten 59 Benannten Stellen (aktuell sind es 28) für die Zertifizierung der Produkte unter neuem Recht benannt. Dies führt zu substantiellen Engpässen bei der notwendigen Erneuerung der Produktzertifikate unter der MDR und erfordert schnelle, aber auch nachhaltige Lösungen, die das System dauerhaft funktionsfähig machen.“
Aus Sicht der Industrie besteht dringender Anpassungsbedarf der MDR durch den Gesetzgeber. DIHK, MedicalMountains und SPECTARIS sprechen sich daher für umfassende Handlungsempfehlungen aus: Alle Alt-Zertifikate, die zum Stichtag 26. Mai 2024 nachweislich nicht in die MDR überführt werden können, sollten unbürokratisch verlängert werden, um so die Verfügbarkeit dieser Produkte weiter zu gewährleisten. Die Politik sollte zudem pragmatische Lösungen schaffen, die eine verlässliche Implementierung der MDR ermöglichen. Hierzu zählen neben dem Ausbau der Benannten Stellen auch die bestmögliche Nutzung ihrer Ressourcen. Des Weiteren sind insbesondere die Erarbeitung von Sonderregelungen für Nischenprodukte und pragmatischere Bewertungsansätze für bewährte Bestandsprodukte notwendig, vor allem auch mit Blick auf die geforderten klinischen Daten. Die entsprechenden Studien seien wegen ethischer Bedenken oder aufgrund fehlender Prüfärzte oft gar nicht durchführbar.
Hinweis für die Redaktionen: Die gemeinsame Umfrage finden Sie hier: EU-Rechtsrahmen für Medizinprodukte praxisuntauglich (dihk.de)
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SPECTARIS ist der Deutsche Industrieverband für Optik, Photonik, Analysen- und Medizintechnik mit Sitz in Berlin. Der Fachverband Medizintechnik im Deutschen Industrieverband SPECTARIS vertritt rund 130 vorwiegend mittelständische Hersteller von Medizinprodukten sowie qualitätsorientierte nichtärztliche Leistungserbringer aus dem Bereich der respiratorischen Heimtherapie. Mit ihren mehr als 152.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwirtschafteten die 1.450 Medizintechnikbetriebe in Deutschland (mit mehr als 20 Beschäftigten) im Jahr 2020 einen Gesamtumsatz von über 34 Mrd. Euro. Die Exportquote beträgt rund 66 Prozent.
Die Medical Mountains GmbH ist eine Clusterorganisation zur Vernetzung und Unterstützung aller Akteure der Medizintechnikbranche mit Sitz in Tuttlingen, dem Epizentrum der Medizintechnikindustrie. U.a. vertritt sie die Anliegen der Branche gegenüber Politik, Behörden und Verbänden – auf Landes- Bundes und EU-Ebene.
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