In Aufbruchstimmung – neues Domizil, neue Ausrichtung und neue Ziele
Es sei ein Trugschluss, nach drei Jahren pandemiebedingt eingeschränkten Konzertbetrieb zu glauben, es könne nun einfach ein Zurück in den Konzertsaal und zur alten Normalität geben. „Wie vielleicht nie zuvor in den letzten Jahrzehnten sind wir plötzlich mit existenziellen Fragen konfrontiert – Pandemie, Klimawandel, Krieg, das macht was mit uns Menschen. Entsprechend steigen die Erwartungen an die Kultur, an Kunst und Musik,“ so Kötter-Lixfeld. „Ist der Besuch eines klassischen Konzertes nur noch eine gesellschaftlich gelernte Konvention, bei der man schöne Musik hört – oder kann mir ein Konzertbesuch konkret etwas bringen? Hat mir die Musik etwas zu sagen? Hilft sie mir, mich und das Weltgeschehen um mich herum zu verorten?“ Hierauf wollen die Bremer Philharmoniker mit ihren Konzerten und Veranstaltungen reagieren.
„Wir möchten ungeahnte Perspektiven bieten, Zusammenhänge aufzeigen, festgefahrene Denkstrukturen hinterfragen, vielleicht auch mal irritieren – das von uns zusammengestellte Programm bietet einen Soundtrack zu den großen Themen unserer Zeit“, verspricht Generalmusikdirektor Marko Letonja. So liegt ein thematischer Schwerpunkt bei den Philharmonischen Konzerten auf den durch den Klimawandel bedrohten Schönheiten und bewahrenswerten Besonderheiten unseres Planeten. Mit dem „Earth Cry“ von Peter Sculpthorpe setzt Letonja mit dem Australier William Barton am Didgeridoo Anfang Oktober gleich zu Beginn der Konzertsaison ein Ausrufungszeichen – und mit Strawinskys „Sacre du Printemps“ direkt ein zweites hinterher. Was für ein Start in die neue Spielzeit! Es folgen Bremens ehemaliger GMD Markus Poschner mit Zulchan Nassides „Traces to Nowhere“, John Nelson mit Beethovens Symphonie Nr. 9 und der berühmten „Ode an die Freude“, Claude Debussys Klanggemälde „La mer“ unter dem Dirigat von Ivan Repušić und der betörende „Siren´s Song“ von Peter Eötvös sowie voller Weltschmerz Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ mit Letonja am Pult. Elena Schwarz dirigiert die von der Natur inspirierten ätherischen Klangwelten „Hava“ von der finnischen Komponisten Lotta Wennäkoski. Und schließlich nochmal Letonja beim großen Saisonfinale mit Jonny Greenwoods „Norwegian Wood Suite“, Christian Lindbergs „Golden Eagle“ und Gustav Holsts „Planeten“.
Kaum ein Komponist litt unter politischen Restriktionen und Repressionen so sehr wie Dmitrij Schostakowitsch. Unter Stalin befand er sich quasi im kaum zu ertragenden Dauerspagat zwischen künstlerischer Selbstverwirklichung und dem Gulag. Marko Letonja lenkt im Februar mit dem Festival „Phil intensiv – Schostakowitsch!“ den Fokus auf einen von einem diktatorischen Regime unterdrückten Komponisten, stellvertretend für Millionen Menschen, die in Unfreiheit und Krieg leben müssen.
„Mit ihrem neuen Programm nehmen die Philharmoniker die aktuellen Schwingungen und Stimmungen in der Gesellschaft einfühlsam auf, wirken gleichsam wie Seismographen unserer Zeit und zeigen damit in bewährter Manier Haltung. Denn es geht um nichts Geringeres als um die Bewahrung unseres Planeten für Mensch und Natur. Und vor dem Hintergrund des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, geht es um ein friedvolles und frei von Repressionen gelebtes Miteinander. Ich gratuliere den Bremer Philharmonikern sehr herzlich zu ihrem neuen und so ansprechenden wie funktionalen Domizil hier im neuen Tabakquartier. All das vermittelt eine kaum zu übersehende Aufbruchsstimmung, die Lust auf neues musikalisches Erleben macht“, so vorab Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz, die auch als Aufsichtsratsvorsitzende der Bremer Philharmoniker GmbH die Entwicklungen des Orchesters im Blick hat.
In der Halle 1 im Tabakquartier wird es möglich sein, Veranstaltungen zu realisieren, die die Nähe zum Publikum und direktes Reagieren der Konzertbesucher:innen zulassen und benötigen. „Vielleicht sind es nicht mehr nur die großen Säle, in denen klassische Sternstunden erlebt werden können, vielleicht gibt und braucht es auch manchmal andere Formate und Locations, um musikalisch Themen zu setzen oder umgekehrt: durch konkrete Themen die Begegnung mit Klassik zu genießen“, so Christian Kötter-Lixfeld. Die neue Konzertreihe PhilX, ein musikalischer Spaziergang durch Woltmershausen mit dem Titel „Pusdorf Pictures!“ oder ein aus Orchesterreihen konzipiertes Blechbläserfestival bieten dazu im Tabakquartier vielfach Gelegenheit – genreübergreifend, experimentell, ungezwungen. Auch der Besuch öffentlicher Proben wird wieder möglich sein und das Partizipieren an Entstehungsprozessen erlauben. „Was mit unseren Afterwork-Konzerten begann, lässt sich mit innovativen Projekten fortschreiben und ausweiten,“ ist der Intendant überzeugt: eine Image-Politur der Klassikbranche. „Und dazu gehört vielleicht, nicht nur betriebswirtschaftlich auf Auslastungszahlen und sogenannte Blockbuster zu schauen, die große Säle füllen, sondern anzuerkennen, dass sich ein gesellschaftlicher Wandel auch im Kulturleben vollzieht. Wir sind Teil davon. Wir müssen und wollen mit unserem Publikum interagieren.“
Die Bremer Philharmoniker tun dies in der kommenden Spielzeit nicht nur mit einer Reihe renommierter Gastsolist:innen wie Marc-André Hamelin, Annette Dasch, Dimitry Ivashenko oder Christian Lindberg und Dirigent:innen wie Andrew Gourlay, Elena Schwarz oder Marzena Diakun, sondern ebenso mit vielen vielversprechenden Musiker:innen, die noch nicht im Rampenlicht stehen. Die Violinistinnen Clara Jumi Kang und Ji Young Lim gilt es ebenso zu entdecken wie den Cellisten Taeguk Mun oder den Pianisten Dejan Lasić. „In vielen unserer Konzertprogramme der kommenden Spielzeit finden sich auch Namen von Komponist:innen, die es bei der Omnipräsenz der großen Musik-Giganten wie z.B. Mozart, Beethoven und Tschaikowsky bislang eher schwer hatten, ihren Platz im Konzertrepertoire zu finden – zu Unrecht!“, findet Marko Letonja. Es sei höchste Zeit, dies zu ändern und Komponist:innen wie z.B. Karol Szymanowski oder Dora Pejačević, aber auch zeitgenössische Kompositionen von Unsuk Chin oder Jonny Greenwood einem breiten Publikum vorzustellen. „Es gibt sehr viel Spannendes zu entdecken“, verspricht der Generalmusikdirektor.
Ausreichend Gelegenheit dazu gibt der Konzertkalender des Orchesters mit 28 Philharmonischen Konzertterminen, sechs Afterwork-Konzerten, viermal PhilX, zehn Sonderkonzerten, zahlreichen Kammermusiken und abwechslungsreichen Familienkonzerten sowie Festivals, Klimaworkshops mit Konzerten und den Opernvorstellungen im Theater Bremen. Die Glocke, der Bremer Dom, das Theater am Goetheplatz, das Rathaus, der Wallsaal, das Haus im Park und vor allem die Halle 1 im Tabakquartier bieten dem Orchester eine Bühne und Bremer:innen lebendige Orte des Erlebens und des Reflektierens, des Entspannens und des Dialogs.
Ein besonderes Augenmerk kommt dabei auch der Musikwerkstatt der Bremer Philharmoniker zu. Die Projektverantwortlichen Marko Gartelmann und David Gutfleisch haben es auch in Pandemiezeiten geschafft, mit kreativen Angeboten den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen in Schulen und KiTas nicht abbrechen zu lassen. Mehr als zwei Jahre waren Workshops in den drei Musikwerkstätten kaum möglich, Klassenübergreifende Projekte und Konzerte in den Schulen mussten abgesagt werden, doch mit dem PhilMobil und kurzweiligen Pausenhofkonzerten waren die Musikvermittler trotzdem regelmäßig unterwegs. „Es ist absolut bemerkenswert, dass trotz der Kontaktbeschränkungen in der vergangenen Spielzeit mehr als 13.000 Kinder und Jugendliche durch uns erste Erfahrungen mit klassischen Instrumenten aus aller Welt sammeln und heitere wie nachhaltige Konzerte erleben konnten“, betont Kötter-Lixfeld. Gerade in der Nachwuchsförderung gewinnt das Engagement des Orchesters mehr und mehr an integrativer Bedeutung in Schulen und ganzen Stadtteilen.
„Klassische Musik heute nur noch mit der Bespielung von Kulturtempeln vor einem musikalisch erfahrenen Publikum gleichzusetzen, ist überholt“, resümiert der Intendant. “Es ist wunderbar, wenn sich Menschen intensiv mit Klassik beschäftigen und musikwissenschaftlich bewandert sind, davor habe ich ohne Zweifel sehr großen Respekt und Hochachtung. Aber Klassik funktioniert auch ohne Vorwissen, sie kann ebenso Menschen begeistern, die klassische Konzerte bislang mit gepflegter Langeweile verbunden haben. Wir möchten mit unseren Konzertformaten und Themen zeigen, wie aktuell und aufregend, bereichernd und beflügelnd klassische Musik für jede und jeden sein kann!“ Die Bremer Philharmoniker verstehen sich entsprechend als Orchester für alle Bremer:innen. Die Eröffnung der neuen Halle im Tabakquartier am 10. /11. September mit Festkonzert und Tag der offenen Tür bietet Gelegenheit, sich davon zu überzeugen. Interessierte sind zudem zur konzertanten Saisonpräsentation am Sonntag, den 10. Juli in der Glocke eingeladen. Der Eintritt ist frei.
Mehr Informationen und das ausführliche Programm der Spielzeit 2022/2023 finden sich auf der Website des Orchesters: www.bremerphilharmoniker.de
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