Finanzen / Bilanzen

Anleihen als „sicherer Hafen“ – nur noch eine alte Mär?

„Staatsanleihen galten lange als ‚sicherer Hafen‘, haben aber in den vergangenen Monaten Rekordverluste eingefahren“, sagt Dr. Volker Schmidt, Senior Portfolio Manager bei Ethenea Independent Investors S.A. Europäische Anleihen mit Investment-Grade hätten allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres durchschnittlich mehr als 13 Prozent verloren. Die Renditen 2-jähriger US-Staatsanleihen haben sich seit Jahresbeginn von 0,75 Prozent auf mehr als 3 Prozent sogar vervierfacht.

Das Ende der geldpolitischen Krisenbekämpfung

Als Folge des Corona-bedingten Wirtschaftseinbruchs haben laut Dr. Schmidt beinahe alle Zentralbanken die Zinsen auf oder nahe 0 gesenkt und Anleihen im Rekordvolumen angekauft: „Die anschließende Erholung der Weltwirtschaft, Vollbeschäftigung sowie steigende Inflationsraten haben die Fed in der zweiten Jahreshälfte 2021 zu einer Änderung ihrer Politik veranlasst“. Zuerst habe die Fed ihre Anleihenkäufe reduziert und im März 2022 vollständig beendet. Seit Juni reduziere sie nun ihren Bestand von Staatsanleihen und hypothekengedeckten Anleihen. Für den Berg an Staatsanleihen müssten nun andere Investoren gefunden werden. Der Wechsel der Fed vom Käufer zum Verkäufer von Staatsanleihen sei nicht zuträglich für den Status als ‚sicherer Hafen‘. Die EZB verfolge eine ähnliche Politik, nur zeitverzögert. Ihre Anleihenkäufe würden im Juli nicht mehr fortgesetzt und im gleichen Monat werde die erste Zinserhöhung folgen. „Einzig mit dem Abbau ihrer angehäuften Anleihebestände tut sich die EZB schwer. Fällig werdende Gelder sollen jedenfalls gemäß ihren offiziellen Verlautbarungen mindestens bis Ende 2024 wieder angelegt werden. Vielleicht vollzieht die EZB bis dahin aber auch doch noch einen Sinnes- und gänzlichen Politikwandel,“ spekuliert Dr. Schmidt.

Inflation bleibt hoch

Die Renditen 2-jähriger US-Staatsanleihen liegen mittlerweile bei mehr als 3 Prozent und 10-jährige Anleihen rentieren bei rund 3,25 Prozent. Demgegenüber steht in den USA eine Inflation, die im Mai schon den dritten Monat in Folge bei über 8 Prozent liegt. „Damit ist sie meilenweit vom Inflationsziel der Fed von 2 Prozent Jahresteuerung entfernt,“ erläutert der Fondsmanager. „Die Bekämpfung der Inflation ist daher das erklärte Hauptziel der US-Zentralbank“. Deshalb habe die Federal Reserve auch im Juni mit einer Zinserhöhung um 0,75 Prozent eine deutliche Duftmarke gesetzt und weitere massive Zinserhöhungen angekündigt. Nach Einschätzung Dr. Schmidts werde die Inflation selbst bei einer Verlangsamung in den Monaten zum Jahresende immer noch bei über 6 Prozent liegen. Entsprechend werde die Fed ihren Leitzins bis spätestens Ende 2022 auf ca. 3 Prozent anheben. 

„Wir halten daher weitere Verluste auf US-Staatsanleiheinvestments bis zum Jahresende für wahrscheinlich, wenn auch nicht mehr in dem Ausmaß der letzten Monate“, sagt Dr. Schmidt. Ähnliches gelte für Europa. Die Inflation liege in der Eurozone bei 8,1 Prozent und damit genauso deutlich über dem Ziel der EZB. Die Renditen seien deutlich angestiegen, selbst die Renditen für 2-jährige deutsche Staatsanleihen lägen mittlerweile bei rund 1 Prozent, nachdem sie im vergangenen Sommer noch bei -0,8 Prozent lagen. „Auch wenn der Großteil der Verluste inzwischen verbucht wurde, erwarten wir noch weitere, leichte Verluste für in Euro-denominierte Anleihen,“ so Dr. Schmidt weiter.

Das „sicheret Hafen“-Potenzial von Anleihen 

Der russische Überfall auf die Ukraine habe Staatsanleihen Ende Februar zu kurzfristigen Gewinnen verholfen und damit signalisiert, dass der Sicherheitsaspekt bei Anlegern immer wieder ein Investitionsmotiv sein kann. Ebenfalls ist zuletzt wieder häufiger das Wort ‚Rezession‘ in den wirtschaftlichen Kommentaren lesen – wie auch von einem möglichen Politikfehler der Fed, weil sie ihre Zinsen so stark anhebt. „Diese Botschaften haben das Potenzial, das Sicherheitsbedürfnis von Anlegern zu steigern und die Nachfrage für die 10-jährigen US-Staatsanleihen anzukurbeln,“ erläutert Dr. Schmidt. 

Im Falle einer wirtschaftlichen Verschlechterung könnte die Fed mit dem Dilemma einer weiterhin zu hohen Inflation bei gleichzeitigen Jobverlusten konfrontiert werden. „Dass sie in diesem Falle die Bekämpfung der Inflation priorisiert, hat Powell nun auch deutlich gemacht.“, so der Fondsmanager. Nach einer Erhöhung der Zentralbankzinsen auf 3 Prozent jedoch dürfte sie vorerst pausieren und abwarten. Ab einem Level von 3,5 Prozent wären auch 10-jährige US-Staatsanleihen wieder ein ‚sicherer Hafen‘ mit eher begrenztem Verlustpotential und einem attraktiven Kupon. „Allerdings denken wir, dass erst nach einem vollzogenen Anstieg der Zentralbankzinsen in den USA der Sicherheitsaspekt für Anleger wirklich überzeugend wird, insbesondere wenn sich die Rezessionsangst verschärft.“ 

In der Eurozone gelten allen voran deutsche Staatsanleihen als ‚sichere Häfen‘. Die Renditen 10-jähriger deutscher Staatsanleihen liegen aktuell bei ungefähr 1,6 Prozent. „Das Potenzial für Kursgewinne selbst bei einer sich abzeichnenden Rezession ist deutlich niedriger als bei den US-amerikanischen Pendants, da wir eine Rückkehr der Negativzinsphase ausschließen,“ so Dr. Schmidt. „Ihre Knappheit sowie die deutlich niedrigere Staatsverschuldung lassen deutsche Staatsanleihen hervorstechen.“ 

Schuldentragfähigkeit unter die Lupe nehmen

Auf lange Sicht belaste die Schuldentragfähigkeit den Charakter von Staatsanleihen als ‚sichere Häfen‘ immens. Aufgrund der weltweit massiv gestiegenen Staatsverschuldung werde bei dauerhaft höheren Renditen auch die Refinanzierung des Schuldenberges immer teurer und belaste damit den Staatshaushalt, wenn auch erst auf sehr lange Frist. 

„Nach Berechnungen des Congressional Budget Office in den USA werden die Nettozinszahlungen zwar in den kommenden zwei bis drei Jahren auf unter 1,5 Prozent leicht sinken im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt, um dann jedoch bis 2051 auf 8 Prozent zu steigen“, erläutert Dr. Schmidt. Noch düsterer sei das Bild, wenn man die Nettozinsausgaben auf die gesamten Staatsausgaben bezieht. Diese würden im gleichen Zeitraum von 8 Prozent auf über 30 Prozent steigen.

„Wenn aus diesem Grund Zweifel an der Fähigkeit und dem Willen zur Refinanzierung der bestehenden Schulden entstehen, dann steht der Status als ‚sicherer Hafen‘ ernsthaft in Frage, wie die Staatsschuldenkrise in Europa vor ca. 10 Jahren eindringlich gezeigt hat,“ so der Fondsmanager. „Wir zweifeln nicht an der Fähigkeit der USA, sich jederzeit refinanzieren zu können, auch wenn der Willen dazu zeitweise zu fehlen scheint.“ Regelmäßig werde die Zahlungsfähigkeit aufgrund parteipolitischer Machtspiele erst im scheinbar letzten Moment durch die nötigen Kompromisse gesichert. Zudem verfüge der US-amerikanische Staat als Emittent seit 2011 auch nur noch ein AA+-Rating. „Wir bei ETHENEA sind uns aber sicher, dass die USA auch in der Zukunft jederzeit ihren Verpflichtungen nachkommen wird und daher US-Treasuries auch weiterhin das Potenzial zum ‚sicheren Hafen‘ haben werden.“ 

In der Eurozone gebe es keinen Grund, den Willen zur Begleichung der Schulden anzuzweifeln, ist sich Dr. Schmidt sicher, auch wenn die Staatsschuldenkrise vor 10 Jahren die Zahlungsfähigkeit vieler europäischer Staaten in Frage gestellt habe. „Anleihen aus den Peripherieländern Italien, Spanien und Portugal sind schon lange kein ‚sicherer Hafen‘ mehr und werden dieses auch auf absehbare Zeit nicht werden“. Ihnen würde eine Vergemeinschaftung der Schulden in der Eurozone helfen. Für deutsche Staatsanleihen gelte das genaue Gegenteil. „Solange es dazu nicht kommt, bleiben Bundesanleihen der „sichere Hafen“ Europas,“ so Dr. Schmidt.

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