Spektakuläre Neuerwerbung für die Staatliche Graphische Sammlung München: Vincent van Gogh, „Begräbnis in Nuenen im Winter“, Dezember 1883
„Ich bin überzeugt, daß Millet, Daubigny und Corot, wenn man von ihnen verlangen würde, sie möchten eine Schneelandschaft ohne Weiß malen, es tun würden, und daß der Schnee in ihren Bildern weiß erscheinen würde.“ (Nuenen, Anfang Mai 1885)
Als Vincent van Gogh in einem an seinen Bruder Theo in Paris gerichteten Brief seiner Bewunderung über die malerische Virtuosität der führenden Köpfe der Schule von Barbizon Ausdruck verlieh, weilte er selbst in der niederländischen Provinz, hielt aber durch Theo Kontakt zur Pariser Kunstszene. Noch immer wurde in der französischen Metropole die Malerei der Schule von Barbizon, die einen unmittelbaren Zugang zur Natur gesucht hatte, angeregt diskutiert. Erst etwa zehn Jahre lag es zurück, dass eine Gruppe junger Maler auf der Grundlage der Schule von Barbizon den Impressionismus erfunden hatte, der noch kühnere Farbabstraktionen vollbrachte. Allen äußeren Anfeindungen von Seiten der akademischen Malerei zum Trotz revolutionierten die Impressionisten mit ihrer radikal-lichten Farbpalette den Blick auf die Welt. Dass van Gogh mit seiner Malerei schon wenige Jahre später noch weit darüber hinausgehen sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen. Fernab jeglicher großstädtischen Aufbruchsstimmung junger Avantgardisten sah er sich aufgrund seiner wirtschaftlich desolaten Situation gezwungen, in das Haus seiner Eltern in Nuenen zurückzukehren. Diese bekleideten in dem Dorf eine Pfarre, und Vincent sollte dort nahezu zwei Jahre sein Dasein fristen und den Habitus eines Sonderlings annehmen, den er Zeit seines Lebens nicht mehr abstreifen konnte. Auch wenn er selbst in Nuenen künstlerisch noch ganz unter dem Eindruck der erdigen Farbpalette der Haager Schule mit ihren ländlichen Sujets stand, war er über den intensiven Briefkontakt zu seinem Bruder Theo, der als Angestellter der Pariser Kunsthandlung Coupil & Cie mit Bildern der Schule von Barbizon und der Impressionisten handelte, erstaunlich gut über die Strömungen der zeitgenössischen französischen Kunst informiert.
In Vincent van Goghs kurzer Reflexion über eine Schneelandschaft ohne Weiß innerhalb eines längeren Briefs an Theo blitzt eine faszinierend wechselvolle Zeit in der bildenden Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, in der Traditionen als obsolet erachtet und akademische Dogmen infrage gestellt werden. Neue Strömungen und Stilrichtungen beeinflussen sich gegenseitig, lösen sich ab oder erneuern sich – ein Phänomen, das die Moderne kennzeichnen und im Verlauf des 20. Jahrhunderts an Dynamik zunehmen wird.
Mit diesen Vorzeichen versehen gibt sich Vincent van Goghs frühe Zeichnung „Begräbnis in Nuenen im Winter“ vom Dezember 1883 als atemberaubend modern zu erkennen. Das von van Gogh beschriebene Vermögen der neuen Malerei, einen Eindruck von Schnee ohne Weiß erschaffen zu können, transferiert er selbst in seiner kleinformatigen Tuschfederzeichnung in eine für die Zeit ungewöhnliche graphische Technik: Er kratzt mit einem Stichel einzelne Passagen der tuschegefärbten Komposition frei, so dass das Motiv luftig schneebedeckt erscheint, ohne dass mit Deckweiß gehöht worden wäre. Abgesehen von der innovativen technischen Lösung ist auch die Komposition unerwartet modern. Folgt man der Argumentation des Gutachtens der Experten des Van Gogh Museums in Amsterdam, so ist der Begräbniszug Vincents freie Bilderfindung in einer Zeit wo er eigentlich noch ausnahmslos nach der Natur arbeitet.
Stilistisch ist das Blatt weder dem Realismus der Haager Schule noch dem der Malergruppe von Barbizon zuzuordnen. Eher kündigt sich in ihm ein stimmungsvoll aufgeladener Symbolismus avant la lettre an. Ohne Frage ist van Goghs frühe Zeichnung aus der Nuenener Zeit für sich schon ein Ausnahmeblatt. Im Sammlungskontext der Staatlichen Graphischen Sammlung München aber stellt es sich mit Blick auf den ausgezeichneten Bestand von Werken der Avantgardebewegungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den bereits vorhandenen drei Meisterblättern in Rohrfeder des späten van Gogh der 1888/89er Jahre als ein Desiderat erster Güte dar. Van Goghs zeichnerisches Schaffen könnte mit dem „Begräbnis in Nuenen im Winter“ und den bereits vorhandenen drei Blättern, die schon im frühen 20. Jahrhundert mit der sogenannten Tschudi Spende in die Münchner Sammlung gelangten, in treffender Beispielhaftigkeit abgebildet werden. Hinzu kommt, dass marktfrische Zeichnungen van Goghs außerordentlich selten sind. Im konkreten Fall befindet sich das Werk seit 1901 in Münchner Familienbesitz, was die Zeichnung einmal mehr adelt.
Die Erwerbung wurde mit Unterstützung durch die Ernst von Siemens Kunststiftung ermöglicht.
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