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Brexit, Corona und die Normalität in Europa
Lockdown im Europa-Parlament – hat es einer gemerkt? Die letzten großen Momente fanden in Brüssel Ende Januar statt. Covid-19 war da bereits unter uns, sogar als Tagesordnungspunkt des Plenums am 29. Januar. Doch der Brexit war den meisten wichtiger. In dieser Sondersitzung stimmte das EU-Parlament dem Austrittsvertrag mit dem Vereinigten Königreich zu. Es ist ein historischer Moment. Die meisten sind sich der Tragweite bewusst, sie haben ja schon den Mauerfall erlebt, die Wiedervereinigung, den Austausch der stabilen D-Mark und anderer nationaler Währungen gegen die Gemeinschaftswährung Euro (2002), die Wunden der Osterweiterung (2004), die Rechtsbrechungen der Union während der Eurokrise (seit 2008) und der Einwanderungskrise (seit 2015). Doch diesmal ist mehr…
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Pandemie-taugliche Einsichten gesucht: Zur Systemrelevanz der Elternerziehung
In der Corona-Krise zeigt sich, wie systemrelevant Kinderbetreuung ist. Sie ist eine gesetzliche Pflicht von Eltern und nicht ihr Freizeitvergnügen. Eben dies verkennen seit jeher jene Familienfeinde, die familienpolitische Leistungen wie das Kindergeld oder Betreuungsgelder (wie in Bayern) mit Subventionen für Theater, Opern etc. gleichsetzen. So wurde in der um 2012/2013 geführten Kampagne gegen ein Bundesbetreuungsgeld dessen Befürwortern vorgeworfen, dass diese eine „Herdprämie“ für die Nichtinanspruchnahme von Kinderbetreuungsinfrastruktur fordern würden. Dies sei abwegig, weil es ja auch keine Erstattung für den Nichtbesuch von Theatern oder Opernhäusern geben würde. Diese sophistische Kritik an einer Honorierung von Erziehungsleistung wurde politisch-medial verbreitet, obwohl ihre Abwegigkeit evident ist: Theater muss niemand besuchen, Kinder betreuen…
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Kinderreiche und Alleinerziehende: Erfahrungen von unüblichen Haushalten in Corona-Zeiten
„Die Hefe muss zurück ins Regal. Auch vom Brot, den Nudeln, der frischen Milch und Mehl gibt’s nur zwei Packungen“, sagt die Kassiererin beim Zahlen im Discounter. In der Schlange hinter uns raunt einer „Hamster“. Dabei machen wir nur einen normalen Einkauf für uns und die vier Kinder. Gottlob sind die älteren Geschwister nicht mehr im Haus, weil sie in einer WG in Kreuzberg wohnen oder noch im Ausland sind. Vermutlich müssten wir als Kinderreiche schon hungern. Mindestens aber rationieren, denn viele Lebensmittel gibt es nur noch auf Zuteilung. „Maximal eine Verpackung“ oder „Abgabe nur in haushaltsüblichen Mengen“ steht hier und dort schon an den Regalen. Aber wer definiert „haushaltsüblich“?…
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Die Corona-Chance
Die Entschleunigung der Arbeitsgesellschaft durch den Virus könnte helfen, die Beziehungskultur zu sanieren. Ein Essay Von Jürgen Liminski „Wir werden siegen – venceremos“ heißt es trotzig in Spanien, die Kurve der Kranken steigt exponentiell. Ausgangssperre herrscht in Italien, aber Balkon-Gesang machen Stimmung, trotz allem. In Frankreich erklärt der Präsident dem Virus den Krieg und die Tageszeitung „Figaro“ zitiert Camus: Mehr als die Hoffnung braucht der Mensch die Wahrheit, auch über Corona – mit anderen Worten: die Kriegserklärung kam zu spät. Isolation ist Vaterlandspflicht, heißt es in Deutschland. Grenzen werden geschlossen, Notstand verkündet, Hospitäler aufgerüstet. Es ist Krieg in Europa und alle sind betroffen. Der Gegner ist nur mikroskopisch sichtbar, aber…
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Schon die Gesinnung wird verfolgt
»Die Stunde des Thomas Morus« – diese Worte haben einen doppelten Sinn: sie besagen, dass Thomas Morus seine Stunde hatte: seine Entwicklung, seinen Wirkungskreis, sein Schicksal, das durch sein Verhalten in einer konkreten Lebens- und auch Geschichtskonstellation bestimmt wurde. Sie impliziert aber auch, dass das Zeitlose und Allgemeine jener Konstellation seine Stunde zu unserer Stunde macht. Was dieses Allgemeine und Zeitlose ist, will der Untertitel des Buches »Einer gegen die Macht« ausdrücken. Morus lebte als Familienvater, als humanistischer Schriftsteller, als Verteidiger der römischen Kirche, als Jurist und als exponierter Staatsdiener an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, mitten in einem gewaltigen europäischen Umbruch. Dies alles versuche ich dem Leser auf…
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Die Weisheit der Alten
Wie steht es um die Großeltern? Das Bild wandelt sich. Ein Blick auf Buchtitel der letzten Jahrzehnte gibt da ein wenig Aufschluss. Anfang der achtziger Jahre und bis in die neunziger Jahre, als der demographische Wandel langsam ins kollektive Bewußtsein sickerte, erschienen Titel wie „Die Altersexplosion“ oder „Die Altersrevolution“ und „Kampf der Generationen“. Dann, nachdem klar wurde, dass dieser imaginäre Kampf vor allem dem Erfindungsreichtum kinderloser Journalisten entsprungen ist (siebzig Prozent der Journalisten sind kinderlos, bei den Frauen mehr noch als bei Männern), die sich nicht vorstellen konnten, dass alte Leute auch Familienmenschen waren und sind, widmete man sich, so hieß es jetzt, der „Kunst des Älterwerdens“ oder der „Vielfalt…